Bücherwurmloch

Stefanie de Velasco: Kein Teil der Welt

„Auf uns wartete das größte und beste Geschenk: das ewige Leben“
„Ich kann mich kaum an einen Tag in meinem Leben erinnern, den ich ohne Sulamith verbracht habe“, sagt Esther, und jetzt ist Sulamith fort. Was ist geschehen in jener Nacht, über die niemand mit Esther sprechen will? Ihre Eltern sind mit ihr in die Stadt gezogen, aus der ihr Vater stammt, weit weg von zuhause, in den Osten Deutschlands. Sie wollen hier eine neue Gemeinde aufbauen, denn sie sind Zeugen Jehovas.

„Ich überlege, wann ich mich das letzte Mal über etwas gefreut habe. Ich weiß es nicht, es ist so lange her, dass ich Probleme habe, mich zu erinnern, wie Freude sich überhaupt anfühlt.“

Esther geht in eine normale Schule, doch nichts an ihrem Leben ist „normal“: Sie muss in den Dienst gehen, von Haus zu Haus ziehen, den Menschen vom Glauben erzählen, sie muss zu Versammlungen und darf nicht mit Weltkindern ausgehen. Sulamith hat dagegen aufbegehrt, sie hat sich in einen Weltjungen verliebt, wollte mit ihm Zeit verbringen, sie wollte einen Walkman besitzen und Musik hören.

„Es hatte sich nie angefühlt, als seien wir etwas wert. Unsere Träume, unsere Wünsche und Zweifel interessierten niemanden, im Gegenteil. Sie wurden als Bedrohung für die Gemeinschaft gesehen.“

Wie ist es, so aufzuwachsen? In der Welt und doch fern von ihr, kein Teil von ihr? Esther ist sechzehn und interessiert an ganz weltlichen Dingen, sie will tanzen gehen und Spaß haben und außerdem weiß sie gar nicht mehr, ob sie an das Paradies glauben soll, das da kommen wird. Ist es überhaupt wahr, was ihr seit so vielen Jahren eingebläut wird? Und vor allem: Was, wenn nicht?

„Vater, der mich über seinen Brillenrand hinweg anschaut und nicht versteht, was los ist, weil er sich nie für Kleider oder Mädchen oder Duftöl interessiert hat, nicht für Sulamith und mich, weil er so was wie blind und taub zugleich ist, so wie alle Männer, wenn es um Mädchen geht.“

Stefanie de Velasco hat mit Tigermilch einen ungestümen, fast schon brutalen Roman vorgelegt. Ihr neues Buch ist ganz anders. Es wird nicht von der Handlung getragen, denn davon gibt es in Wahrheit nicht viel, es lebt vielmehr vom Setting: Es spielt in einer Familie der Zeugen Jehovas, und das ist für sich sehr interessant und lebenswert. Diese Glaubensgemeinschaft wird gern belächelt, über ihr Klingeln an Türen werden Witze gemacht. Kaum habe ich angefangen, Stefanie de Velascos Buch zu lesen, habe ich diese Menschen, die mit den Zeitschriften an den Bahnhöfen standen, sofort mit anderen Augen gesehen. Und mich gefragt, wie es sich wohl anfühlt, als Zeugin Jehovas aufzuwachsen wie Esther – und wie Stefanie de Velasco selbst. Ist das wirklich so anders als für ein Kind in einer muslimischen oder katholischen Familie? Überall wird vom Glauben erzählt, überall wird im Namen eines Gottes erzogen. Wir haben nicht das Recht, über die Zeugen Jehovas zu urteilen oder uns über sie lustig zu machen. Vieles, was die römisch-katholische Kirche uns glauben machen will, klingt nicht im Geringsten glaubwürdig. Kein Teil der Welt ist ein Buch, das den Horizont erweitert und Einblick gibt in eine Gemeinschaft, über die wir zu wenig wissen. Allein deshalb solltet ihr es lesen: weil Literatur bildet, Grenzen überwinden lehrt und uns alle ein wenig näher zusammenrücken lässt.

Kein Teil der Welt von Stefanie de Velasco ist erschienen bei Kiepenheuer & Witsch (ISBN 978-3-462-05043-1, 432 Seiten, 22 Euro).

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