„Der frische Morgen schmeckt köstlich, als könnte man davon runterbeißen“
Was für ein sinnliches, überbordendes Buch! Lea Singer widmet sich in ihren Romanen, die auf wahren Begebenheiten beruhen, interessanten Persönlichkeiten – und gießt deren Lebensrealität in Fiktion. In Die Zunge hat sie über Alexandre Grimod de La Reynière geschrieben, der von 1758 bis 1837 in Frankreich gelebt hat. Sie beginnt ihre Erzählung mit seiner Geburt, bei der er von seinen reichen Eltern emotional verstoßen wird, weil er mit deformierten Armen zur Welt kommt. Mutter und Vater kümmern sich nicht um ihn, erzählen eine seltsame Geschichte von Schweinen, die dem Baby die Finger abgefressen hätten, und bekommen keine weiteren Kinder. Sehr früh findet Alexandre Zuflucht in der Küche, bei den Geschmäckern, Gerüchen und dem Geschick der Köchin, die ihn lehrt, auf seine Sinne zu hören. Beigebracht bekommt er, dass er, wo er doch keine flinken Finger hat, seine Zunge trainieren soll. Das tut er, und so macht er später nicht nur die Frauen glücklich, sondern auch Karriere als spitzzüngiger Advokat und Theaterkritiker.
Dies ist ein Roman wie ein Festschmaus. Viel wird aufgetischt, und Lea Singer nimmt sich Zeit – zu erklären, zu berichten, zu fabulieren. Das ist herrlich und erinnert stellenweise, vor allem wegen dem Fokus auf Geschmack und Geruch, an Süskind berühmtes Parfum. Mich hat dieses Buch fasziniert, weil Alexandre Grimod de La Reynière ein spannender Charakter ist, weil es um Geld und Macht, Politik, Besitz und körperliche Behinderung geht in einer Zeit, in der man Menschen mit Deformitäten oftmals umgebracht hat. Allerdings war mir das Buch gute siebzig Seiten zu lang, denn ich war – um im Bild zu bleiben – längst satt, nur hat das Festmahl nicht aufgehört. Ich hatte das Gefühl, dass ich ja alles eh schon verstanden habe, dass da kein Erkenntnisgewinn mehr kommt, die Handlung war stellenweise ein wirres Hin und Her, das den politischen Wirren im Frankreich des 18. Jahrhunderts geschuldet war – ihr wisst, wovon ich spreche.
Herausragend an Lea Singers Romanen ist die Sprache, die sie so meisterhaft der Epoche anpassen kann, von der sie schreibt. In Der Klavierschüler (der Grund, warum ich noch etwas von ihr lesen wollte) klingt alles viel nüchterner, sachlicher als in Die Zunge, das mit rauschenden Metaphern und fast schon erotischen Gourmeterlebnissen aufwartet. Dies ist ein schlaues, interessantes und beeindruckendes Buch, bei dem man hinterher das Gefühl hat, gebildeter zu sein als vorher – weil man jetzt weiß, wer Alexandre Grimod de La Reynière war, wann er gelebt hat und wie.
„Warten ist ein Vorgang, bei dem mit Menschen dasselbe geschieht wie mit Weinen im Keller. Die einen kippen um, werden sauer und ungenießbar, die anderen werden reif, harmonisch und groß dadurch.“
Die Zunge von Lea Singer – das Pseudonym von Eva Gesine Baur – ist erschienen bei Klett-Cotta und als Taschenbuch bei dtv (angeblich vergriffen, aber ich hab es ganz normal in einer Buchhandlung bekommen).