„Alle müssten viel öfter an ihren eigenen Tod erinnert werden. Dann würde es weniger Größenwahn geben“
„Helene Schulze gehörte unwidersprochen zum Kanon der späten feministischen Avantgarde“ war auch so ein Satz, der überall in den Nachrufen stand. Kanon, Avantgarde. Das klang nach einem kuscheligen Chor, dem das österreichische Feuilleton und der Markt andächtig gelauscht und danach applaudiert hätten. Das Gegenteil war der Fall. Feministische Avantgarde, das bedeutete Gehasstwerden. Vom Feuilleton. Vom Steuerzahler. Von den Kollegen. Es bedeutete Gegenwind und Einsamkeit.“
Das sagt Elvira, und die muss es wissen: Sie war nämlich dabei. Sie ist eine von Helenes ältesten Freundinnen und Mitstreiterinnen, und Helene ist tot. Die Schriftstellerin, die in jungen Jahren mit einem Buch sehr erfolgreich war, konnte an diesen Erfolg nie anknüpfen, hat geheiratet und Kinder bekommen und ist schließlich allein in einem Häusl in der Einöde gestorben – am Saufen. Das ist bitter, und Elvira muss sich jetzt durch ihren Nachlass wühlen, denn für das neueste Werk, quasi posthum rausgebracht, ist Helene für den Deutschen Buchpreis nominiert. Das ist noch nie einem toten Menschen gelungen, und die Presse giert nach zitierfähigen Sätzen. So lernt Elvira den jungen Adrian kennen, der mit einem Fernsehteam in ihr Haus kommt. Wenig später ist er ihr Assistent. Ohne recht zu wissen, worauf er sich einlässt, tourt er mit der alten Frau und einem noch älteren Lieferwagen, in dem sie schlafen, durchs Land – und sieht sich plötzlich in höchst illegale Aktivitäten verwickelt. Denn Elvira ist wütend. Und sie plant einen groß angelegten Rachefeldzug – im Namen von Helene. Und im Namen aller Frauen.
Einen Roman über Feminismus zu schreiben, der saukomisch und brutal ernst zugleich ist, das ist nicht so einfach. Da muss erst einmal eine Klemm kommen, damit das gelingt. Denn sie hat den Biss dafür, sie hat die nötige österreichische Gschertheit, den Humor und vor allem: Sie hat die Sprache. Gertraud Klemm hat mit Hippocampuseine Geschichte vorgelegt, die eigentlich eine Abrechnung ist: mit der Buchbranche, mit den Politikern, mit den Machthabern und den Männern im Allgemeinen. Das ist großartig, scharf, böse und wahr.
„Wenn Ehepaare miteinander altern, wachsen die Frauen über sich hinaus und über ihre Zuständigkeiten. Dann wachsen sie um ihre Männer herum und ersticken sie mit ihrer Fürsorglichkeit, damit sie im Alter noch jemanden haben, den sie dank günstiger Seniorentickets durch die Welt schleifen können.“
So klingt das, wenn Protagonistin Elvira spitzzüngig lebenserfahrene Urteile fällt. Sie war einmal jung und hat daran geglaubt, die Welt für ihre Mitfrauen ändern zu können. Inzwischen ist sie resigniert und allein und pleite – genau wie Helene es war. Weil sie wieder und wieder gegen die gläserne Wand gelaufen sind, hinter der all die Männer standen mit hämischem Grinsen. Aber Elvira dankt nicht einfach so ab, sie hinterlässt lieber noch einen riesengroßen Haufen Scheiße, und zwar sprichwörtlich. Sie errichtet der Frau eines Gemeindebürgermeisters, der verewigt ist in lauter Bronzetafeln für seine großen Taten, ebenfalls ein Denkmal, bestehend aus einem Berg vollgeschissener Windeln, den die Bürgermeistergattin weggearbeitet hat in der Zeit, in der ihr Mann Politik gemacht und das Ego poliert hat. Dass den Frauen die Arbeit nicht gedankt wird, darum geht es in diesem Buch, dass sie keinen Platz haben in den oberen Reihen, dass sie sich müde kämpfen und doch nie siegen. Ein Roman, der wachrüttelt, und ganz ehrlich: richtig so. Wir brauchen diese Wut. Wir müssen wach sein und die Ärmel hochkrempeln und ein bisschen Radau machen. Wie Elvira.
Hippocampus von Gertraud Klemm ist erschienen bei Kremayr & Scheriau (ISBN 978-3-218-01177-8, 384 Seiten, 22,90 Euro).