„Das Traurigsein, Marili, wird erst aufhören, wenn ich sterbe“
Marili ist vier Jahre alt, sie wächst auf dem Bergbauernhof ihrer Großeltern auf, eine Mutter hat sie nicht. Sie beobachtet den Schnee, den Schlaf des Opas, die Traurigkeit der Oma durch kindliche Augen, sie weiß noch nicht, was all das bedeutet – und sieht doch schon so viel. Vor allem auch: dass nicht alles gut ist, ganz im Gegenteil. Wenig Gutes hat auch die Ehefrau in der Novelle Wir töten Stella zu erzählen: In einem schonungslosen Bericht macht sie deutlich, wie viel Schuld sie am Niedergang von Stella trägt. Das neunzehnjährige Mädchen kommt ins Haus der Familie, und vor den Augen seiner Frau und seiner Kinder nutzt der Ehemann dessen Jugend aus, dessen Unschuld, dessen Schwärmerei. Die Gattin weiß, was er tut, sie sieht erst Stellas rote Wangen und glückliche Augen, sieht später ihr bleiches Gesicht und die Verzweiflung. Sie ist kalt und distanziert.
„In der Tat war ja nichts mehr gutzumachen. Stella würde eine Zeitlang heftig leiden und dann anfangen, sich zu beruhigen, wie wir uns alle beruhigen müssen, wenn wir am Leben bleiben wollen.“
Doch Stella will nicht am Leben bleiben, und als sie tot ist, da kann die Ehefrau nicht anders, als abzurechnen mit der eigenen Untätigkeit.
„Einmal war alles gut und in Ordnung, und dann hat jemand die Fäden verwirrt. Ich kann den Anfang nicht mehr finden, und das Gespinst unter meinen Händen verwirrt sich von Tag zu Tag mehr, es wächst und wuchert, und eines Tages wird es mich begraben und ersticken.“
Man kennt Marlen Haushofer für ihr großartiges Werk Die Wand. Ihre scharfen Novellen sind jedoch nicht minder großartig: Als Erzählerin war sie furchtlos. Sie ging Themen an, über die sonst kaum geschrieben wurde, nicht aus Frauensicht zumindest, sie schrieb pointierte Sätze, sie beobachtete so klar und unverstellt, und sie konnte, was sie sah, auch in Worte fassen. Ich lese diese kleine Sammlung zwei ihrer Geschichten, ich lese sie in dieser engen Schrift, in der Bücher früher gesetzt wurden, in dieser Sprache, die noch nicht antiquiert anmutet, aber auch längst nicht mehr modern ist, einer anderen Zeit entsprungen, einem anderen Stil verhaftet, und denke nur, wie gut das alles ist. Wie gut es geschrieben ist und auf den Punkt gebracht. Wie sehr Marlen Haushofer es verdient hätte, noch zu Lebzeiten berühmt zu werden. Wie sie heute einen festeren Platz im Literaturkanon haben sollte, einen Platz von denen, die nur den männlichen Schriftstellern gehören. Es ist faszinierend, dass so kleine Geschichten offenbaren, was für eine große Autorin sie war. Lest alles von ihr, es ist hervorragend.
Wir töten Stella / Das fünfte Jahr von Marlen Haushofer wurden 1958 und 1953 zuerst veröffentlicht und sind in der Neuauflage bei Ullstein erschienen (List Taschenbuch).
Danke für den Hinweis! “Die Wand” war eines der besten Romane, die ich in den letzten Jahren gelesen habe. Ich habe diese beiden Bände gleich gekauft…
Ah, das freut mich. Du musst mir dann berichten!