Bücherwurmloch

Michela Murgia: Chirú

„Es gibt Seelen, die irgendwo einen geheimen Sprung haben, einen unsichtbaren Riss, der selbst denjenigen verborgen bleibt, die ihn in sich tragen“

„Ich fand ihn niedlich wie ein Kätzchen, das mit seinem eigenen Spiegelbild kämpft, die Oberfläche zerkratzt, ohne sich selbst zu erkennen.“

Das denkt Eleonora über Chirú, als sie ihn kennenlernt. Sie ist eine achtundreißigjährige, bekannte Schauspielerin, er ein achtzehnjähriger Musikstudent. Sie nimmt ihn als ihren Schüler an, wie sie es bereits einige Male getan hat in ihrem Leben: Es ist üblich, dass gestandene Künstler junge Talente unter ihre Fittiche nehmen, ihre Mentoren werden, sie den richtigen Leuten vorstellen und sie die Umgangsregeln lehren. Eleonora zeigt Chirú, wie man sich in gewissen Kreisen kleidet, lässt ihn ausgewählte Bücher lesen und bringt ihm das Netzwerken bei. Sie ist eine gebildete, erfolgreiche Frau, er ein ungestümer Jugendlicher, die zwanzig Jahre Altersunterschied sind stets spürbar:

„Es gelang mir nicht, mich an seine Jugend zu gewöhnen, die er versteckt in sich trug und die zuweilen plötzlich hervorkam, mit dem ängstlichen Satz eines Waldtiers. Ich wusste, dass er bald lernen würde, seinen emotionalen Hunger zu verstecken, wie jeder es tut mit den Dingen, die ihn nackt und schutzlos zeigen, doch an diesem Nachmittag schien mir, dass noch jede Art der Unschuld möglich war, sogar meine eigene.“

Und was sind das für Gefühle, die eine solche Verbindung mit sich bringt? Ist es nicht zwangsläufig so, dass sie sich, weil sie so viel Zeit miteinander verbringen, weil sie sich gegenseitig Einblick geben in ihre Seelen, ineinander verlieben müssen? Michela Murgia ist eine kluge, besonnene Autorin, die mich mit Accabadora tief beeindruckt hat, sie erzählt hier keine platte Cougar-Lovestory. Und doch muss man es wohl Liebe nennen, keine schwarz-weiße, klare Form der Liebe, vielmehr eine ihrer Spielarten, angesiedelt zwischen sexueller Begierde, Freundschaft und Ehrfurcht, beide bewundern am anderen das, was sie nicht haben: Eleonora an Chirú die Jugend, Chirú an Eleonora die Erfahrung. Durchdrungen ist dieser Roman von einem sehnsuchtsvollen, sardischen Lebensgefühl, einem fremden, zart klingenden Ton, genau wie von der seltsam anziehenden Arroganz, die den Italienern generell eigen ist. Denn was könnte es Anmaßenderes geben als die Überzeugung, man sei selbst so gut, dass man einen anderen teilhaben lassen kann am eigenen Sein, damit er davon profitiert? Michela Murgia hat über Abhängigkeit und Macht geschrieben, über Kunst und den Weg zum Erfolg, über Jungsein und Altern – und über die Liebe.

„Selbst jetzt erkannte ich, dass etwas Unwiderstehliches in der Macht lag, die seine Angst, mich zu verlieren, mir verlieh.“

Chirú von Michela Murgia ist erschienen bei Wagenbach (ISBN 978-3-8031-3287-1, 208 Seiten, 20 Euro).

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