„Warum kannst du nicht auf seiner Seite sein, ganz und gar, mit Haut und Haaren?“
„Vielleicht braucht es Zeit, denkt er, um sich loszusagen von diesem Deutschsein, von den Jahren als Pimpf, von den Geschichten, den Liedern, von der Schönheit, die oft darin lag.“
Denn Franz hat Deutschland noch in den Knochen – obwohl er in Amerika ist. Als Kriegsgefangener wurde er über den Ozean gebracht, in einem riesigen Schiff, nun befindet er sich mit anderen deutschen Soldaten in einem Lager, weit entfernt von der Heimat, weit entfernt vom Krieg. Sie werden gut behandelt, sie arbeiten, sie bekommen zu essen. Franz freundet sich mit dem Halbamerikaner Paul an, der ihm eine neue Sicht auf den Nationalsozialismus eröffnet, für den er selbst so leidenschaftlich entbrannt war, dass er nach Europa ging, um zu kämpfen. Jetzt sieht er klarer, jetzt hat er die Fassade Hitler durchschaut – und öffnet auch Franz die Augen. Doch in einem Lager, in dem deutsche Soldaten leben, die der Sache treu sind, die an Deutschlands Sieg glauben, die all jene vernichten wollen, die anders denken, ist dies nicht unbedingt klug. Von all dem weiß Martin nichts. Martin ist der Enkel von Franz, der Sohn von Barbara, fast vierzig ist er, und Franz ein alter Mann. Der ein letztes Mal dorthin will, wo sein Leben sich verändert hat: nach Amerika, nach Texas, wo das Lager war. Martin begleitet ihn auf dieser Reise, die zugleich ein Abtauchen in die Vergangenheit ist – und ein neuer Weg, um zu verstehen.
Da denkt man, man habe schon alles gelesen über den Zweiten Weltkrieg, und dann kommt Hannes Köhler mit seinem Roman und man merkt: Da gibt es noch mehr, eine neue Sicht, eine andere Seite – deutsche Kriegsgefangene in Amerika. Wie haben sie gelebt, wie gingen sie mit ihrem Schicksal um? Hannes Köhler war vor Ort, hat im Staub der Archive eine Geschichte entdeckt, die echt ist und tief und authentisch. Er hat Ausgangsfragen gestellt, mit denen sich bisher in der Literatur kaum jemand beschäftigt hat, und fiktive Antworten darauf gefunden: Ein mögliches Lebenist ein Buch über den Krieg, der auch dort tobt, wo er gar nicht stattfindet. Geradezu meisterhaft hat der junge deutsche Autor, der mich bereits 2011 mit In Spurenbeeindruckt hat, aufgezeigt, wie die Deutschen ihren Kampf mitnehmen ins fremde Land, ins Lager. Wie sie eben unfähig sind, sich loszusagen vom Deutschsein, wie sie in ihrem Wahn bis ans Ende gehen. Köhlers Protagonist Franz gerät zwischen die Fronten, und später redet er nicht. Lebt sein Leben und redet nicht, jahrzehntelang, ist ein eher kühler, der eigenen Tochter kaum bekannter Mann, erzählt nicht von seinen Ängsten damals, von seinem Verlust, von seiner Hoffnung. Erst als es fast zu spät ist, erst als er bald sterben muss, spricht er. Und gibt seinem Enkel Martin dadurch die Möglichkeit, zu erkennen, zu sehen – und zu verzeihen.
Dies ist ein großartig recherchiertes, klug durchdachtes und von Wehmut durchwirktes Buch. Es hat einen Kern aus Sehnsucht, der alles leicht schief, leicht verkrüppelt wachsen lässt. Es kommt ohne Effektheischerei aus und wirkt gerade dadurch umso mehr. Letztlich eröffnet es jenen Raum, der uns Menschen ermöglicht, weiterzumachen, trotz allem: Vergebung.
Ein mögliches Leben ist erschienen bei Ullstein (ISBN 9783550081859, 352 Seiten, 22 Euro)
Hach Mareike, du schaffst es auch immer wieder, noch das letzte Quentchen aus einem, Buch herauszuholen. Bei mir bewirkte es, dass das Buch und seine Geschichte wieder sehr real vor Augen steht. Eine sanfte, aber trotzdem intensive Lektüre, die bleibt. Danke fürs Erinnern.
Liebe Grüße
Marc
Hehe. Ich danke dir für das Kompliment!