„In solchen Zeiten muss man wohl immer im Kopf behalten, dass die Hetero-Welt nichts für ihren Mangel an Fantasie kann“
Sie sind schrill. Sie sind laut und bunt und selbstbewusst. Sie sind queer und schwul und trans, sie sind schön. Joseph Cassara erzählt von New York 1980, von Glamour und Armut und Stolz und Tod, er hat ein Buch geschrieben über die LGBTQ-Ballroomszene, die damals im Kommen war, über Ausgrenzung und Verrat, über Gewalt und glitzernde Outfits. Vor allem aber hat er ein Buch geschrieben über die Liebe.
„Aber es ist ja nicht so, als hätten wir nur genug Liebe für einen Menschen in uns. Man kann im Laufe der Zeit mehrere Menschen lieben. Wenn du mich fragst, finde ich, jede Liebe fühlt sich anders an, sieht anders aus, klingt anders.“
Aus der Sicht verschiedener Protagonisten – darunter Angel, die man als Hauptcharakter des Romans bezeichnen könnte – schildert er das Leben in einer Subkultur, in der die schillernden Dragqueens ihre eigenen Regeln erschaffen. Sie lassen sich nicht kleinkriegen.
„Also sage ich immer: Wenn dich die Welt eine Schlampe nennt, spreiz die Beine und vögle und genieße es.“
Sie halten Bälle ab, treten beim sogenannten Voguing gegeneinander an und verteilen Shade. Sie gründen Häuser, denen sie exaltierte Namen geben, sie nehmen junge Männer von der Straße auf und kümmern sich umeinander, sie sind Familien – weil sie keine eigenen Familien mehr haben. Und das ist wichtig, weil sie sich stets in Gefahr befinden:
„Denn es gibt Queens, die kommen her und glauben, sie sind die Größten, weil wir ihnen einen Pokal gegeben haben, aber was kommt dann? Sie gehen nach Hause, und irgendwelche Schwulenhasser prügeln die Scheiße aus ihnen raus? Bitte. Das ist offenkundig nicht ganz ideal.“
Etwas seltsam ist, dass Joseph Cassara sich realer Personen für seinen fiktiven Roman bedient hat – Menschen, die nicht mehr leben und die nicht ihre Erlaubnis geben konnten. Auch vom echten Haus Xtravaganza, das tatsächlich existiert, hat er keine Zustimmung erhalten, dass er über sie schreiben darf – weil er gar nicht gefragt und mit den Mitgliedern des Hauses nicht einmal gesprochen hat. Das hat ihm Kritik eingebracht, es hat auch dazu geführt, dass der Verlag den Titel der deutschen Ausgabe ändern musste. Ich kann es nicht nachvollziehen, weil er ja ganz einfach erfundene Namen und fiktive Charaktere hätte verwenden können, das hätte der Geschichte keinen Abbruch getan. Aus Interesse habe ich im Anschluss an das Buch einige Artikel gelesen, außerdem hab ich mir die Doku „Paris is burning“ angesehen sowie einige Folgen der Serie „Pose“. Wenn ihr mehr über die Ballroom-Szene erfahren wollt, kann ich euch das nur empfehlen.
Auch Angel wird im Buch eine Hausmutter, leider aber nicht mit ihrer großen Liebe Hector. Denn bevor es dazu kommt, stirbt Hector an HIV. Das Virus, das wie ein Schlächter in der Szene wütet, dem sie nichts entgegenzusetzen haben, weil sie nicht wissen, was es ist, bringt sie nacheinander um.
„Die Leute starben wie die Fliegen, nicht durch Gewalt oder Hass, sondern an diesem Virus. Gott. Es war abscheulich. Natürlich hatten wir alle Angst. Todesangst, um Himmels willen.“
Und doch: Solange sie noch am Leben sind, tanzen sie. Sie feiern, sie lachen, sie nähen Kostüme, sie liefern sich spektakuläre Wettkämpfe, sie prostituieren sich, sie lieben.
„Nichts konnte ihnen etwas anhaben. Sie waren lauter als die Liebe. Die Liebe war so laut, dass sie sie nicht einmal mehr hören konnten. Sie konnten sie nur sehen, wie ein Licht, das vorwärtsströmte und sich einen Dreck darum scherte, was sich ihm in den Weg stellte. Da waren sie, er und sein Mann, Hand in Hand, so laut, dass man sie nur noch leuchten sah.“
Das Haus der unfassbar Schönen von Joseph Cassara ist erschienen bei Kiepenheuer & Witsch (ISBN 978-3-462-31925-5, 448 Seiten, 19,99 Euro).