„Sie fürchtet nicht die Männer, sondern das Alleinsein“
Von außen betrachtet, ist es ein gutes Leben, das Adèle führt: Sie arbeitet bei einer Zeitung, ihr Mann ist Arzt, sie wohnen in einem schicken Viertel in Paris und haben einen süßen Sohn. Adèle ist aber nicht zufrieden und glücklich schon gar nicht, sie hätte gern mehr. Mehr Aufmerksamkeit, mehr Bestätigung, mehr Sinn, mehr Sex. Sie schläft wahllos mit Männern, auch ungeschützt, sie tut es nicht unbedingt aus Gründen der Geilheit, sondern für den Egokick. Der aber nie so richtig einsetzt, der aber immer zu klein bleibt, weshalb sie erneut danach suchen muss. Es ist ein Spiel, freilich ist es das, Adèle ist die Jägerin und gleichzeitig die Beute. Sie möchte frei durch die Nacht treiben, tun können, was immer sie will, gleichzeitig wünscht sie sich, getragen zu werden, einen Anker zu haben. Sie ist rastlos, ruhelos, sie hasst die Menschen, die Welt, am meisten sich selbst. In die Mutterrolle kann sie sich nicht einfinden, nicht so, wie die Gesellschaft es von den Frauen verlangt, die aufgehen sollen darin.
„Lucien ist eine Last, eine Verpflichtung, an die sie sich einfach nicht gewöhnen kann. Adèle könnte nicht sagen, wo im Knäuel ihrer Gefühle sich die Liebe zu ihrem Sohn verbirgt. Irgendwo zwischen der Panik, ihn anderen anvertrauen zu müssen, der Gereiztheit, wenn sie ihn anzieht, der Erschöpfung, wenn sie seinen störrischen Buggy eine Steigung hochschiebt. Sie hat keinen Zweifel daran, dass die Liebe da ist. Eine unbeholfene Liebe, Opfer des Alltags. Eine Liebe, die keine Zeit für sich findet.“
Leïla Slimani hat ein Buch geschrieben, das als radikal und provokativ bezeichnet wird. In Wahrheit ist es einfach nur ehrlich. Es beschreibt Frauen, wie Frauen nun mal sind – nur wollte das in der Vergangenheit niemand hören. Es gäbe viele Bücher dieser Art, nur wollte sie auch niemand publizieren. Jetzt sind die Zeiten anders, jetzt mögen wir den Aufschrei, er ist medienwirksam und verkauft sich gut. Aber sagen wir doch, wie es ist: Frauen ficken herum, so what. Sie tun Dinge, die offiziell nur Männer tun, und davon überrascht zu sein, ist inzwischen bloß noch langweilig. Get over it! Sie sind deshalb nicht zerrissen, wie man so gern sagt, sie sind auch nicht innerlich leer, niemand würde das je über einen Mann sagen. Leïla Slimanis Roman dagegen ist alles andere als langweilig, er ist sehr gut. Weil die französische Autorin mit marokkanischen Wurzeln, die bereits mit ihrem Bestseller Dann schlaf auch du international die Leser begeistert hat, prägnant und gefühlsgenau schreibt. Sie hat keine Angst vor dem Unbequemen, und das macht ihre Bücher so messerscharf.
Noch besser, radikaler und interessanter hätte ich es gefunden, wenn Leïla Slimani bei Adèle geblieben wäre, die Geschichte aus ihrer Sicht zu Ende gebracht hätte. Wenn sie nicht die klassischen Gründe und Ausflüchte aufs Tapet gebracht hätte – eine schwierige Kindheit, eine lieblose Mutter – und wenn sie nicht gekippt wäre in die 08/15-Erklärung, dass eine Frau, die mit so vielen Männern schläft, natürlich krank sein und nach Heilung streben muss. Das hat der intensiven Geschichte in meinen Augen einen Dämpfer verpasst, aber ich weiß, das sieht nicht jeder so – in anderen Besprechungen war die Rede davon, wie großartig der Wechsel sei und wie nachvollziehbar die psychologischen Hintergründe. Adèle ist mit Sicherheit eine Protagonistin, mit der man sich nicht identifizieren kann oder will, und deshalb ist All das zu verlieren das Gegenteil von Wohlfühlliteratur. Was es in meinen Augen umso lesenswerter macht.
All das zu verlieren von Leïla Slimani ist erschienen bei Luchterhand (ISBN 978-3-630-87553-8, 225 Seiten, 22 Euro).