„Es ist eigenartig, jemanden zu lieben, der sich dabei so ungeliebt fühlt“
„Ich glaube an die Kraft handgeschriebener Texte. Schreiben ist Zeichnen, das hat Paul Klee gesagt, oder? Und es frischt das Gedächtnis auf. Wer schreibt, hinterlässt Spuren.“
Also schreiben sie, allen voran Boris: Ihm wurde von seinem Therapeuten dazu geraten. Per Brief nimmt er Kontakt mit seiner Familie auf, mit der er gebrochen hat. Er befindet sich in einem Scheidungskrieg, seine beiden halbwüchsigen Söhne dürfen oder wollen ihn nicht sehen. Er hegt unglaublich viel Groll, und er lässt ihn in seine Briefe fließen. Die Geschwister und Eltern antworten ihm, sie schreiben auch einander und geben dabei Einblick in das, was passiert ist – und wie sie jeweils unterschiedlich damit umgehen.
Um wirklich in die Tiefe gehen zu können, dazu ist Gérard Salems Buch ein wenig zu dünn. Er lässt einige Familienmitglieder zu Wort kommen, auflösen können sie selbstverständlich nichts – wie auch? Sie schreiben sich aus der Ferne, sie kratzen an den Krusten, die sich in den vielen Jahren über die Verletzungen gelegt haben, sie haben alle ihren Standpunkt, von dem sie nicht abweichen. Der Therapeut von Boris steht in Verbindung mit Boris’ Schwester und gibt ihr Anweisungen, wie sie sich zu verhalten haben – das wirkt auf mich reichlich bemüht und künstlich. Was eigentlich eine gute Idee ist, nämlich in Briefform den familiären Geheimnissen auf die Spur zu kommen, verliert sich leider in Schimpftiraden, aufgewärmten Vorwürfen und seltsam uninteressanten Alltagsbeobachtungen. Was ist das für eine Familie, um die es hier geht? Eine ganz normale Familie. Mit ganz normalen Problemen, Eifersüchteleien, Entzweiungen. Und das mag zwar einerseits realistisch sein, ist aber in einem literarischen Werk letztlich auch heillos banal. Ein Buch, das man schnell gelesen hat und bei dem man mit Sicherheit das eine oder andere Mal schmunzeln muss, das aber keinen bleibenden Eindruck hinterlässt.
Du wirst an dem Tag erwachsen, an dem du deinen Eltern verzeihst von Gérard Salem ist erschienen bei Dumont (ISBN 978-3-8321-8375-2, 206 Seiten, 20 Euro).