„Ich wandele Einsamkeit in Lust und entkomme auf diese Weise dem Schmerz“
„Ich bin Feministin, ich bin stolz, aber was nützt das, wenn ich Lust habe, einen Schwanz zu lutschen.“
Judith ist Zahnärztin auf einer sehr kleinen Insel in Norddeutschland, auf der es kaum Menschen, vor allem: kaum Männer gibt. Dieser Mangel lässt sich nur in der touristischen Hochsaison ausgleichen, wenn Horden von Urlaubern (vor allem: von Männern) auf die Insel strömen, in Judiths Praxis und in Judiths offene Arme. Ihr Motto dabei:
„Mein Körper hat drei Löcher, die ich mit einer größtmöglichen Zahl an Schwänzen stopfe, nach Möglichkeit kein zweites Mal mit demselben.“
Stets über ihre Eskapaden informiert ist Judiths Ehemann Hovard. Bereits vor 25 Jahren hat er beschlossen, dass er nicht mehr mit ihr – die mittlerweile 51 ist – schlafen will. Stattdessen haben die beiden eine andere Art der Intimität gefunden: Er therapiert sie. Er versucht zu ergründen, warum sie Nymphomanin ist, woher ihre Sexsucht rührt, und das ist ein Die-Katze-beißt-sich-in-den-Schwanz-Dilemma, weil vieles davon an ihm und ihrer beider Beziehung liegt. Judith sieht das alles jedoch recht rational: Es ist ein Spiel, das bestimmten Regeln folgt. Und sie beherrscht sie alle.
Corinna T. Sievers kann etwas, das mich fasziniert: Sie schreibt auf kühle Art über heißen Sex. Damit hat sie mich schon in Die Halbwertszeit der Liebe rumgekriegt, wobei die dortige Protagonistin quasi das Gegenteil von Judith war: die eine asexuell und chronisch trocken, die andere nymphomanisch veranlagt und dauerhorny. Wie überaus großartig, dass Corinna sich solcher Figuren annimmt, sie erschafft, sie erklärt, sie leben lässt – abseits vom grausig langweiligen Mainstreamporn, der uns umgibt.
Meine Faszination wird übrigens geteilt von der Jury des Bachmann-Preises, wo Corinna 2018 einen Auszug aus Vor der Flut gelesen hat. Es geht um das sexuell Extreme in ihren Büchern, um die Facetten der menschlichen Sexualität, und deshalb sind sie so interessant. Was für ein starker Motor sind unsere Triebe? Welche Entscheidungen treffen wir ihretwegen – gute wie schlechte? Wie funktioniert so ein Körper? Und wie hilflos ist unser Verstand ihm letztlich ausgeliefert? All dies untersucht Corinna T. Sievers auf fast schon wissenschaftliche, neugierig-informierte Weise und befeuert mit den Erkenntnissen die Handlung. Das ist tabulos und ungeschönt, das ist direkt, ehrlich, anders, ganz, ganz anders, und dadurch so hervorragend. Ich wünsche mir so sehr, dass wir als Gesellschaft endlich aufhören mit der unnötigen Tabuisierung all dessen, was nicht der vermeintlichen Norm entspricht. Es gibt keine Norm – wir leben, wir lieben, wir ficken, wir sind Menschen, wir sind alle die Norm. Ich liebe es außerdem, wenn Frauenfiguren sagen und zeigen, dass sie geil sind, wenn sie in der Literatur alle diese Dinge tun, die sie auch in Wirklichkeit tun – ohne die oktroyierte Scham. Das ist befreiend. Es macht Spaß. Genau wie guter Sex, im Idealfall.
Vor der Flut von Corinna T. Sievers ist erschienen in der Frankfurter Verlagsanstalt (ISBN 9783627002619, 224 Seiten, 20 Euro).
Aber eigentlich macht sie sich nur ein bißchen über Martin Walser und Philiph Roth lustig oder nicht?
https://literaturgefluester.wordpress.com/2019/04/04/vor-der-flut/
Inwiefern?