16 Kurzgeschichten über Veränderungen im Leben
Eine Familie zieht in den Wald, und in der Nacht verschwindet ein Sohn. Eine Frau hütet die Häuser fremder Menschen und erhält die Nachricht einer Freundin, die sie vor langer Zeit kannte. Da ist eine, die alt ist und langsam anfängt zu vergessen, die mit sich selbst spricht, damit sie nicht so einsam ist. Und da ist ein Mädchen, das etwas tut, mit dem es eine Grenze überschreitet. Doris Anselms Geschichten widmen sich Figuren, denen etwas geschieht oder die etwas auslösen – nichts Großes, nichts Weltbewegendes, aber doch etwas, das eine Veränderung bewirkt. Auch diese Veränderung kann klein sein. Ein Tag, der nicht ist wie der andere. Ein Moment, der sich einbrennt ins Gedächtnis. Ein Mensch, an den man immer noch denken muss, so viele Jahre später.
Seit ein paar Jahren – seit ich Kinder habe – beschäftige ich mit Kurzgeschichten. Und die müssen, so scheint es, sich stets dem Kleinen widmen. Dem Moment. Der Alltagsbeobachtung. Ich weiß nicht, ob das der Form geschuldet ist, ob man von kleinen Dingen erzählen muss, wenn man nur wenige Seiten Platz hat, oder ob Kurzgeschichtenschreiber generell einfach gern von dem berichten, was im Alltag vorkommt, ohne sich einen Romanplot ausdenken zu wollen. Ausschlaggebend scheint stets zu sein: Was wird bei den Beteiligten ausgelöst und warum ist es für jeden etwas anderes? Eine weitere Frage, mit der ich mich herumschlage, seit ich Kurzgeschichten lese, ist jene nach ihrem Ende. Fast immer hören Short Storys einfach völlig unvermittelt auf. Sollen sie dadurch literarischer wirken, gewagter, mutiger? Oder ist der Moment, von dem erzählt wird, eben einfach vorbei – und hej, das war’s? Bei so gut wie jeder Geschichte von Doris Anselm denke ich beim letzten Satz: Wtf, was soll das jetzt, warum endet es hier, warum endet es so? Die deutsche Autorin, die in Hildesheim studiert und 2014 das open mike gewonnen hat, setzt Schlusspunkte überall dort, wo ich sie nicht erwarte. Wo sie für mich überhaupt nicht hingehören. Aber auch das ist etwas, das die Gattung Kurzgeschichte an sich spannend macht.
Wo beginnt der erzählenswerte Augenblick, wo endet er? Was kam davor, was danach? Da wir es ja nicht mit einem Roman zu tun haben, können und werden wir es nie erfahren. Manchmal ist das auch beruhigend: zu wissen, dass man gleich nicht mehr weiterlesen muss. Dass man gleich erlöst sein wird von dieser Story und ihren Figuren. Dass das gleich aufhören wird, einfach so, irgendwo mittendrin. Auch das ist ein Grund, warum ich Kurzgeschichten mag. Die von Doris Anselm sind sehr gut. Sie sind literarisch, gewagt und mutig. Sie sind merkwürdig, unverständlich, verstörend und raffiniert. Die Autorin beweist einen Blick für das Kleine, hinter dem – für uns nicht zu sehen – das große steht. Alltagsbeobachtungen eben.
und dann holt meine Liebe zum Gegenschlag aus von Doris Anselm ist erschienen bei Luchterhand (ISBN 978-3-630-87526-2, 192 Seiten, 18 Euro).