„Es war unmöglich, eine Auszeit von sich selbst zu nehmen“
„Die Klinik war ein Schutzraum, in dem jeder nach und nach begann, sein zugeschüttetes Wesen freizuscharren. Ein gebrochenes Bein oder eine Platzwunde war leichter zu verstehen. Acht Wochen Gips, Pflaster drauf, alles war sichtbar. Die Ursache, die Symptome, auch die Heilung. Psychische Störungen dagegen waren unsichtbar.“
In einen solchen Schutzraum, eine Klinik, begibt sich die junge Juli. Sie hat lange auf den Therapieplatz gewartet und ist fest entschlossen, ihn zu nutzen. Jeden Morgen steht sie pünktlich auf, macht sich auf den Weg zur Klinik, nimmt an den Gruppensitzungen und Aktivitäten teil. Sie trifft dort den attraktiven Philipp, der schizophren sein soll, und die quirlige Sophie, bei der eine bipolare Störung diagnostiziert wurde. Sie alle haben ihr Päckchen zu tragen, jeder für sich, doch dann schweißt ein gemeinsames Erlebnis die drei zusammen, und es wird klar: Das Wochenende, das vor ihnen liegt, das müssen sie einfach zusammen verbringen. Juli, die eine bestimmte Form von Autismus hat, passt das nicht, sie will nachhause, in die Sicherheit ihrer vier Wände, und doch kann sie sich der seltsamen Dynamik, die zwischen ihr, Philipp und Sophie entsteht, nicht entziehen. Nicht einmal, als es gefährlich wird.
Wie verrückt ist verrückt genug? Das ist die zentrale Fragen von Niah Finniks erstem Roman Fuchsteufelsstill. Wer ist noch normal, wer ist es nicht mehr? Und wo genau verläuft die Grenze? Klar wird eigentlich nur, dass das völlig unklar ist. Ist das, was wir Therapie nennen, wirklich hilfreich? Medikamente, die den gesamten Geist auf Standby setzen, Stuhlkreise, Töpfern? Die Autorin, die im neuen Imprint Ullstein fünf debütiert hat, ist noch keine 30 Jahre alt und hat das Asperger-Syndrom. Anders gesagt: Schreib über das, was du kennst – und mit Autismus kennt Niah sich demzufolge aus. Ich war deshalb sehr gespannt auf ihr Buch. Wie würde jemand von Autismus erzählen, der nicht von außen draufsieht? Was für Einblicke würde sie mir geben können, welche neuen Erkenntnisse?
Wenn die Frage lautet, wie verrückt ist verrückt genug, muss ich gestehen, und es ist mir fast ein bisschen peinlich, dass mir Fuchsteufelsstill (wunderbarer Titel übrigens und sehr schönes, von der Autorin selbst designtes Cover) nicht verrückt genug war. Protagonistin Juli hat gewisse Spleens, eine Vorliebe für die Farbe Blau, für Zahlen und für Quantentheorie, sie steckt nicht gern in Menschenmassen, zählt mit, wie weit sie sich von ihrer Wohnung entfernt befindet, und hat Angst vor Nähe. Ist man damit schon nicht mehr normal, ist man damit schon krank? Ich kann das nicht beurteilen, nur denke ich während der Lektüre ständig: Das hab ich so alles schon gelesen. Solche Figuren sind mir bereits oft begegnet. Die leicht Beschädigten. Die, mit denen was nicht ganz stimmt. Die einsam sind und schrullig, die Stimmen hören oder keinen Grund mehr sehen, zu leben. Die überdrehte Sophie entspricht dem Stereotyp einer manischen Patientin, und dann taucht auch ein eiskalter Businesstyp auf, der sich, von Langeweile geplagt, gestörter verhält als unsere drei Klinikhasen zusammen. Klischee, ja, natürlich, und genau das hat mich sehr überrascht, weil ich erwartet hatte, dass eine Autorin, die eigene Erfahrungen einbringt, mit diesen Klischees aufräumen würde. Aber Niah Finnik kann auf jeden Fall sehr gut schreiben. Das ist es auch, was diesen Roman lesenswert macht – das und die Art, auf die er einen nachdenklich stimmt. Am Ende zeigt sich: Wir suchen doch alle eigentlich nur nach der Liebe. Und das ist wahrlich sehr verrückt.
Fuchsteufelsstill von Niah Finnik ist erschienen bei Ullstein (ISBN 9783961010035, 304 Seiten, 14,99 Euro).