„Und das Gute an der Vergangenheit ist, dass es einem völlig freisteht, sich nicht mehr an sie zu erinnern“
„Ich bin siebenunddreißig Jahre alt, und Dehnungsstreifen unterschiedlichster Ausprägung zieren meinen Körper.“ Aus diesem Grund hat eine Frau eine Selbsthilfegruppe namens Anonyme Cutilis Waldesreuth gegründet, zu der Gleichgesinnte kommen, um über die verschiedenartigen Narben und Streifen auf ihrer Haut zu sprechen. Ein sehr körperliches Problem hat auch der junge Thom: Er hat kein Gesicht mehr. Nach einem dummen Unfall auf dem Fußballplatz ist es vollständig zerstört, und trotz bester ärztlicher Hilfe ist für seine Freundin klar, dass er nie wieder derselbe sein wird. Schwierigkeiten ganz anderer Art hat dagegen Gudrun in ihrer Beziehung: Ihr Mann Tankred ist Soldat und nie da, sie ist mit dem Baby immer allein. Das hat sie sich irgendwie anders vorgestellt, damals mit 18, als sie mit ihrer Schulfreundin beim Elefantentreffen war, jung, betrunken, voller Träume und gierig nach einem richtig guten Rausch.
Vom Leben auf dem Land erzählt Kristina Schilke, von den Irrungen und Wirrungen der Menschen in einer beschaulichen Stadt, von körperlichen Verletzungen und Gebrechen, von der Liebe und ihrem Ende. Die junge Autorin, die 1986 in Russland geboren wurde und das Deutsche Literaturinstitut Leipzig absolviert hat, hat sich ein kleines, feines Universum erdacht für ihre dreizehn Kurzgeschichten, das tatsächlich auf diese Art existieren könnte. Bei Short Stories, die ich nun seit einer Weile erkunde, fällt es mir stets schwer, sie inhaltlich zu beschreiben. Zu winzig ist der Kosmos, in dem sie sich bewegen, zu minimal die Tiefe der Charaktere. Aber: Neuerdings mag ich Kurzgeschichten, und die von Kristina Schilke mochte ich sehr. Warum? Weil sie Alltägliches und Ungewöhnliches perfekt kombinieren, in einer glaubwürdigen, originellen, lesenswerten Mixtur.
Normale Situationen und Zwischenfälle, die wir alle kennen, sind Kern dieser Storys, und doch ist da noch mehr: etwas Einzigartiges. Das, was ein Leben von all den anderen unterscheidet. Der eine Splitter, der das Licht reflektiert und bricht, sodass ein Miniaturregenbogen entsteht. Dieses Funkeln fängt die Autorin ein, kleidet es in Worte, legt es auf die Seiten, lässt es immer wieder durchblitzen im 08/15-Dasein ihrer Protagonisten. Manche ihrer Geschichten sind interlinking, und Figuren, die ich schon kenne, begegnen mir wieder. Das freut mich, ich zwinkere ihnen zu, schaue, wie es ihnen geht und was ihnen in der Zwischenzeit so alles passiert ist. Wer gern Kurzgeschichten liest, ist mit Elefantentreffen gut beraten.
Elefantentreffen von Kristina Schilke ist erschienen im Piper Verlag (ISBN 978-3-492-05753-0, 224 Seiten, 18 Euro). Hier findet ihr eine kurze Besprechung von Deutschlandradio Kultur.