Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Patrick Modiano: Aus tiefstem Vergessen

IMG_8247„Ich hätte wer weiß was für sie getan“
In Paris trifft der Ich-Erzähler eines Abends auf ein Paar: Gérard und Jacqueline. Alle drei sind jung und mittellos, Gérard spielt jedes Wochenende in einem Casino auf dem Land, der Erzähler verkauft antiquarische Bücher, Jacqueline tut nichts außer Äther zu schnüffeln und von Mallorca zu träumen. Sie ist blass und unscheinbar, doch der Erzähler verfällt ihr und ihrer dünnen Lederjacke: Sie scheint ständig zu frieren und einen Beschützer zu brauchen. Sie geht mit ihm ins Bett, schlägt ihm einen Raub vor und flieht mit ihm nach London. Doch dort ist es nicht besser, im Gegenteil: Das Hotelzimmer schimmelt, die beiden haben einander eigentlich nichts zu sagen, und Mallorca ist immer noch fern. Zudem hätte es dem Erzähler, der in London zum Schriftsteller wird, eine Lehre sein sollen, wie leichtfertig Jacqueline Gérard verlassen hat. Doch als er sie 15 Jahre später wiedersieht, würde er trotzdem wieder alles aufgeben für sie.

Der französische Autor Patrick Modiano erhielt 2014 den Nobelpreis für Literatur. Das ist der Grund, aus dem ich – wie bestimmt viele andere auch – auf ihn aufmerksam geworden bin. Dass ich aus seinem umfassenden Werk genau diesen Roman ausgesucht habe, war purer Zufall. Patrick Modiano erzählt darin in einem überraschend schlichten und unaufgeregten Stil von Zufallsbegegnungen, Verrat und einer Liebelei, die dem Protagonisten wohl am meisten wegen ihrer Unergründlichkeit in Erinnerung geblieben ist. Von einer Liebesgeschichte mag ich gar nicht sprechen, es handelt sich vielmehr um ein Aufflackern der Hormone, um ein Ausprobieren, um einen Versuch, das Leben anders zu gestalten – und vielleicht gemeinsam. Während der namenlose Ich-Erzähler besessen ist von Jacqueline, ist sie ein Fähnchen im Wind, eine kleine Opportunistin. Sie raucht und hustet sich durch den Roman, hat wenig Innenleben, ist still und unzugänglich. Der Ich-Erzähler idealisiert und belebt sie, schreibt ihr Emotionen zu, die sie offenkundig gar nicht hat, kalt und leblos, wie sie ist.

Aber sind es nicht immer diese wankelmütigen, schwer greifbaren Menschen, die uns faszinieren? Aus tiefstem Vergessen ist wie ein Bild aus vergangenen Zeiten, in Sepia-Tönen, das nicht nur vom Hoffen und Scheitern junger Menschen berichtet, sondern auch von einem Leben ohne Handys, ohne permanente Erreichbarkeit, dafür mit Zufallsbekanntschaften, Briefen, langen Wartezeiten an Orten, von denen man dachte, der ersehnte Mensch könnte dort auftauchen, und der ständigen Angst, genau denjenigen aus den Augen zu verlieren: „Ich rechnete oft damit, dass Leute, die ich kennengelernt hatte, von einem Augenblick auf den anderen verschwanden und nie wieder etwas von sich hören ließen.“ Heute findet man die ja alle bei Facebook. Diese Verlustangst mag dem Erleben vielleicht mehr Intensität gegeben haben – letztlich erlagen sie aber trotzdem alle einer großen Täuschung. Und das ist wohl auch heute noch so.

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Aus tiefstem Vergessen von Patrick Modiano ist als Taschenbuch erschienen im dtv (ISBN  978-3-423-14432-2, 160 Seiten, 9,90 Euro).

Noch mehr Futter:
– „Ein klassischer Romanstoff, und vermutlich der schönste von allen: die Erinnerung an ein für immer verlorenes (und dabei schon im Moment des Genusses zweifelhaftes) Glück, an Gerüche, Vergnügungen und Orte, die so nie mehr aufzufinden sind, an die vermeintliche Unbeschwertheit einer Jugend, die nur im Rückblick leicht erscheint und in Wahrheit belastet war von Unruhe und einem unbestimmten Leid“, schwärmt spiegel.de.
– „Die Liebe ereignet sich in diesem schönen Roman mehr nebenbei, aber um so leuchtender. Als Abbild der erzählerischen Laune, die mit dem Kontrast von Schatten und Licht spielt, das diesen Lebensabschnitt charakterisiert“, schreibt der Tagesspiegel.
– „Modianos Helden sind immer auf der Flucht – vor der Vergangenheit, vor sich selbst, vor der Vergänglichkeit des Alltags“, erklärt literaturkritik.de.

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