„In der Stille des Augenblicks hielten unsere Herzen uns am Leben, ohne zu fragen, ob das denn auch recht sei“
„Die Fremde verstummte wieder. Ihr Atem veränderte sich, und sie begann zu heulen wie ein einsamer Hund. Ihre Stimme wurde voll und gewaltig und ließ die Wände erzittern. Wir waren ebenfalls erschüttert, nicht nur von diesem Geheul, sondern von dem Meer der Verzweiflung, das in ihren Augen zu sehen war, von der Landkarte der Schnitte an ihren Armen, auf ihrer Brust. Die Flut ihrer Stimme war wie das Hochwasser des Flusses, jäh und unaufhaltsam riss sie alles mit sich fort.“ Der Fluss spült eine Fremde in das völlig im Wald verschwundene Dorf Zalischik, eine Fremde, die erlebt hat, wovon die Dorfbewohner nur am Rande mitbekommen haben – die Gräueltaten der Nazis. Die Dörfler sind Juden, die über Generationen hinweg gewandert sind, von einem Ort zum anderen, geschasst und unruhig, bevor sie sich niedergelassen haben mit ihren Überlieferungen im Gepäck: „Wir schliefen im Bauch knarzender Schiffe, gingen an unbekannten Ufern an Land. Und währenddessen erzählten wir die Geschichten weiter, und sie hielten uns als Volk am Leben. Unsere Körper hätten ohne sie vielleicht überlebt, unsere Herzen sicher nicht.“ Als sie nun erfahren, wie groß die Gefahr ist, in der sie schweben, beschließen sie, sie einfach zu ignorieren. Das ganze Dorf will einen Neustart: „Wieder und wieder, überall auf der Welt, begannen wir von vorn.“ Sie erdenken sich neu, wie sie leben möchten, in welchen Paarungen, mit welchen Berufen, mit welchen Gebeten. Die elfjährige Lena wird sogar das Kind anderer Eltern, weil diese selbst keins bekommen können. Sie finden neue Regeln und gehen dabei sehr achtsam miteinander um. Doch es ist das Jahr 1939, der Kreis wird immer enger, und im entscheidenden Moment bricht das Fantasiekonstrukt zusammen: Der Krieg holt Zalischik und seine Bewohner ein.
Ramona Ausubel hat mit Der Anfang der Welt einen wuchtigen, fantasievollen, überbordenden Roman geschrieben, der auf den Geschichten ihrer Großmutter beruht. Ich bin vernarrt in die Ausgangssituation und wollte das Buch seiner Handlung wegen lesen: Ein Dorf erfindet sich neu, um der Realität zu entgehen. Doch während die Autorin eine sehr poetische, intensive und berührende Sprache findet, um diese Idee umzusetzen, ist es letztlich genau diese Handlung, die mich enttäuscht: Hauptteil des Buchs ist der Familienwechsel von Lena, die plötzlich mit neuen, noch dazu völlig verrückten Eltern leben muss, eine unheimliche, unverständliche und beängstigende Situation. Das habe ich nicht erwartet, ich wollte mehr über die Wirklichkeitsblase erfahren, die das Dorf schafft, fühle mich inhaltlich eher abgestoßen von der absurden Story, mag manchmal gar nicht weiterlesen. Gleichzeitig ist es dann auch die melodische Sprache, die teilweise anstrengend ist, durchsetzt von religiösen Andeutungen, Mythen, Gebeten, sehr verkopft und niemals entspannt – im Gegenteil, bis zum Zerreißen gespannt ist jeder Satz, berühren darf man keinen davon, sonst schnalzt es.
Ich bin ein ungeduldiger Leser, das gebe ich zu, lasse mich aber gern in Richtungen führen, die ich nicht vorhergesehen habe, bin flexibel und neugierig. Aber Ramona Ausubel bringt mich mehr als einmal zum Stolpern, zerrt an mir, verwirrt mich, begeistert und fasziniert mich auch, lässt mich staunen und zittern. Dies ist ein ungewöhnliches Buch, schillernd, schrill, manchmal leise, dann wieder brüllend vor Schmerz, dabei aber auch unnachahmlich klug und schön: „Liebe ist das eine absolut Wahre in der Welt. Es kann nicht weggeredet, kann nicht zerschlagen, kann nicht umgebracht werden.“
Der Anfang der Welt von Ramona Ausubel ist erschienen im Piper Verlag (ISBN 978-3-492-05519-2, 416 Seiten, 22,99 Euro).
Was ihr tun könnt:
Sophies sehr begeisterte Rezension zu dem Buch lesen.
Ein englisches Interview mit Ramona Ausubel lesen.
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Edmund de Waal: Der Hase mit den Bernsteinaugen
Larissa Boehning: Das Glück der Zikaden
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