„Man versucht zu schlafen, meint, dass die Knochen durch die Haut schaben. Es ist kalt, kalt, ständig kalt“
Im Jahr 1958 ist Leo Ǻgren zusammen mit einer finnischen Schriftstellerdelegation in Russland, wo er in einer heruntergekommenen Trinkstube einen Mann namens Leo Nilheim trifft. Der lädt ihn ein auf einen Tee und eine Geschichte, seine eigene nämlich, die er in dieser Nacht erzählt. Er berichtet von einer harten, langweiligen Kindheit voller Hunger: „Die neue Generation, die Zukunft der Sowjetunion, wuchs unterernährt, zerlumpt und verwildert heran.“ Die Mutter kannte er nie, den Vater und die Großmutter verlor er fast gleichzeitig. Über ihren Tod spricht er abgeklärt, fast schon spöttisch: „Großmutter war nämlich sehr religiös. Wenn wir einen Verwandten an der alten Dorfkirche beisetzten, gehörte sie immer zu denen, die am eifrigsten die Stirn auf den Boden schlugen und sich bekreuzigten. Schließlich begruben wir auch sie.“ Auf diese Kindheit, deren größtes Abenteuer wohl die Deportation des bissigen Ebers Rasputin nach Sibieren war, folgen der Einzug und der Kampf an der karelischen Front, wo Leo von den Finnen gefangen genommen wird. „Drei Tage wanderten wir durch das eisige Karelien, dieses unglückliche, umkämpfte Land.“ Er sieht Berge von Leichen, isst Rinde, friert – und überlebt. Die aber, die er vorher kannte, sind gestorben.
Leo Nilheims Geschichte ist ein schmales Büchlein, in dem der schwedischsprachige finnische Autor Leo Ǻgren, der 1984 verstorben ist, vom Zweiten Weltkrieg erzählt – allerdings „von der anderen Seite“. Er lässt einen Russen berichten, der aufgewachsen ist mit der Verehrung Stalins und dem Hunger, der an die Ideale der Sowjetunion glaubt und in den Krieg gegen die Deutschen bzw. die Finnen ziehen muss. Wie der Kampf der Deutschen an der russischen Front endete, ist bekannt, aber freilich ist es nicht so, als hätten die russischen Soldaten ihren Spaß gehabt. Leo Nilheim ist alt und müde, er ist ein resignierter Erzähler, der in jener einen Nacht längst Vergangenes heraufbeschwört: Kälte, bittere Kälte, Einsamkeit, Todesangst, Hunger. Da er überlebt hat, schildert er alle Widrigkeiten als etwas, das man besiegen konnte, doch der Schrecken ist in jedem Satz spürbar. Zwei fremde Männer sitzen beisammen, der eine breitet sein Leben auf dem Tisch aus, der andere bleibt stumm und schaut es sich an. Ein wenig schade finde ich, dass die Erzählung gar so kurz geraten ist und ein wenig unvermittelt endet, andererseits bin ich beeindruckt, dass sie trotz der Kürze so kraftvoll und erschütternd ist. Ein kleines Stück Zeitzeugnis, das Einblick gibt in Ereignisse, die begraben liegen unter Tonnen von Schnee und Jahrzehnten des Vergessens – und an die wir uns doch stets erinnern sollten.
Leo Nilheims Geschichte von Leo Ǻgren ist erschienen im Osburg Verlag (ISBN 978-3-95510-038-4, 160 Seiten, 17,99 Euro).
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