„Essen Sie ein Stückchen Sachertorte. Unterzuckerung ist die Mutter der Melancholie“
Es ist keine leichte Aufgabe, die die junge Dokumentarin Anna Roth zu bewältigen hat: Sie soll Adele Gödel, die Witwe des begnadeten Mathematikers Kurt Gödel, überzeugen, den Nachlass des Genies dem Institut zu überlassen, für das Anna arbeitet. Adele ist im Altersheim und dem Tod näher als dem Leben, sie ist außerdem gehässig, fett und vulgär. „Sie sind genauso wie all die anderen verkniffenen Arschlöcher aus Princeton“, sagt sie, „Sie fragen sich, wie ein solches Genie eine so blöde Sau heiraten konnte.“ Anfangs hat die eher blasse und schüchterne Anna dieser Urgewalt von Frau nichts entgegenzusetzen, doch das ändert sich schnell, und sie bietet Adele die Stirn. Sie erreicht, dass die alte Dame sich öffnet und anfängt zu erzählen – von der ersten Begegnung mit dem Studenten Kurt, von den enormen Unterschieden zwischen ihnen, der Flucht vor den Nationalsozialisten, den Problemen mit der Schwiegermutter und Kurts Abdriften in den Wahnsinn sowie von gemütlichen Runden mit den Größen Princetons wie Albert Einstein. Anna ist fasziniert von der außergewöhnlichen Lebensgeschichte dieser Frau, die immer im Schatten ihres Mannes stand und sich für ihn aufopferte, ohne dass jemand es bemerkt hätte – nicht einmal er selbst.
Die Göttin der kleinen Siege von Yannick Grannec ist eine sehr facettenreiche, opulente Geschichte über das Leben von Adele Gödel an der Seite des Mathematikers, der den Unvollständigkeitssatz entwickelte und bis heute Rätsel aufgibt. Die französische Autorin feiert in diesem Debüt eine reale Liebe auf fiktionale Weise: Sie bezieht sich auf historische Tatsachen, die sie in einem Glossar belegt, und füllt die Lücken mit ihrer Fantasie. Und das macht sie richtig gut. Sie wechselt dabei zwischen Gegenwart und Vergangenheit: In der Gegenwart finden die Gespräche zwischen Anna und Adele statt, bei denen Adele mit ordinären Sprüchen zu provozieren versucht, sich lustig macht über Mauerblümchen Anna und ihr lebenskluge Ratschläge gibt à la „Einen Mann zu verführen ist nichts – ihn zu halten ist schwierig.“ Die Kapitel in der Vergangenheit widmen sich der fünfzig Jahre währenden Ehe von Adele und Kurt, ausgehend von ihrem ersten Treffen im Jahr 1928. Adele war eine Nachtclubtänzerin, die nichts von der Mathematik verstand, Kurt ein Student mit vielversprechenden Aussichten. Die Konstellation ist, wenn man von einer ernsten Beziehung und nicht von einer kurzen Liebelei ausgeht, eher merkwürdig, und Adele wird Zeit ihres Lebens das dumme Flittchen an der Seite des großen Denkers bleiben.
Die Ehe mit „Kurtele“ ist nicht einfach, im Gegenteil, er ist verschroben, neurotisch und paranoid, gleitet immer mehr ab in Geisteszustände, in die ihm Adele nicht folgen kann. Sie kümmert sich um ihn, gibt ihn niemals auf, obwohl er ihre Liebe nicht zu schätzen weiß. Schon zu Beginn gibt es einen Wortwechsel zwischen Adele und Kurt, der für ihr ganzes weiteres Leben gelten soll: „Ich werde Sie am Denken hindern. Ich rede viel“, sagt sie, und er entgegnet: „Das macht nichts. Ich höre eben nicht hin.“ Vor der Kulisse des Zweiten Weltkriegs, einer dramatischen Flucht und dem Aufbau einer neuen Existenz in Amerika entspinnt sich die Geschichte zweier Menschen, die wider aller Vernunft aneinandergebunden sind und sich nicht loslassen bis zum Tod. Ein wenig schade finde ich, dass Kurt mit der Zeit als Figur verblasst, aber es gehörte vermutlich zum wahren Wesen dieses Menschen, dass er schwer fassbar war. Hier gibt es – zwischen den ausufernden Gesprächen mit Einstein und Konsorten – einige Momente, in denen ich den Faden und das Interesse verliere, weil ich leider noch weniger von Mathematik verstehe als Adele. Generell aber hat Yannick Grannec mich mit diesem farbenprächtigen, überbordenden, sarkastischen und zugleich traurigen Roman sehr beeindruckt. Es ist eine Kunst, trockene Fakten zum Leben zu erwecken, und die Autorin hat Originalzitate geschickt in die Gespräche eingeflochten sowie die Hintergründe bestens recherchiert. Es fehlt an nichts: Eine übergroße Liebe, Verzweiflung, Geisteskrankheit, Europas Zerfall und die großen philosophischen Fragen der Menschheit vermengt die Autorin zu einem besonderen Leseabenteuer.
Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge: sehr schlicht, der Flamingo hat Bezug zum Inhalt.
… fürs Hirn: auweh – Mathematik ist mein blinder Fleck, aber die Autorin hat sich redlich bemüht, die Theorien so aufzubereiten, dass sie allgemein verständlich sind.
… fürs Herz: das ganze Buch, die Geschichte einer lebenslangen Liebe.
… fürs Gedächtnis: „Menschen im Allgemeinen langweilen mich schnell. Ich muss jemanden bewundern können.“
Die Göttin der kleinen Siege von Yannick Grannec ist erschienen im Verlag Lessingstraße 6 (ISBN 9783853000038, 480 Seiten, 21,90 Euro).
Das klingt wirklich interessant, auch wenn ich wirklich nichts mit Mathe am Hut habe. Vielleicht fällt es mir ja mal in die Hände, dann lese ich mal rein.
Tu das unbedingt! Ich hab mit Mathe genau gar nichts am Hut … aber das Buch ist davon unabhängig wirklich toll und gut zu lesen.