„Es gibt Dinge, die können gleich erzählt werden, andere haben ihre Zeit, und manche sind unsagbar“
„Der Henner ist wirklich ein schöner Mann. Letztens im Laden fiel mir das auf: ein grober, massiger Körper, mit einer steten Kraft in den Bewegungen, doch das Gesicht ganz fein. Die Augen tief und ausdrucksvoll und dunkel, kleine Falten rundherum, ein bitterer Zug um den Mund, doch wenn er lächelt, ist davon nichts mehr zu sehen. Man sieht ihm das Trinken nicht an.“ Zu diesem wesentlich älteren Mann fühlt sich die 17-jährige Maria hingezogen. Sie lebt mit ihrem Freund Johannes auf dem Hof seiner Eltern, sie hat es ganz gut dort und lässt sich treiben, sie schwänzt die Schule und wägt ihre Möglichkeiten ab, jetzt, da die Mauer gefallen und die Grenze in den Westen offen ist. Maria liebt Johannes, aber vom Henner ist sie fasziniert, so sehr, dass sie sich ihm immer wieder nähert, obwohl er im Dorf ein Außenseiter ist und die Leute ihm misstrauen. Während Maria mit Johannes die Liebe kennenlernt, zeigt der Henner ihr die Lust: Er ist grob und rücksichtslos, er nimmt sie, tut ihr weh: „‘Mach mit mir, was du willst‘, flüstere ich ihm ins Ohr. Und das tut er dann auch.“ Das Mädchen verstrickt sich in seinen Lügen, sucht immer öfter nach Ausreden, um beim Henner sein zu können, ist ihm hörig. Es ist ein heißer Sommer, der – so liegt es lange schon in der flirrenden Luft – kein gutes Ende nehmen wird.
„‘Die Lüge zerfrisst den Menschen inwendig‘, sagt Oma Traudel immer.“ Und trotzdem sind es oft die Lügen, an die wir uns klammern, die wir nicht loslassen, obwohl sie uns zerstören. Das zeigt die deutsche Autorin Daniela Krien in ihrem Debüt Irgendwann werden wir uns alles erzählen auf geradezu meisterhafte Weise. Ihre Ich-Erzählerin, die 17-jährige Maria, ist ein kluges, aber eher antriebsloses Mädchen, das sich auf dem Hof seines ersten Freundes eingenistet hat, um der erdrückenden Traurigkeit der Mutter zu entkommen. An der Schwelle zwischen Kindheit und Weiblichkeit begegnet Maria einem Mann mit tragischer Vergangenheit und mysteriöser Aura – und lässt sich ganz bewusst von ihm gefangen nehmen. Sehr eindringlich und wirkungsvoll erzählt Daniela Krien von diesem Bann, in den Maria gerät, von gewalttätigem Sex, von der Einsamkeit und den Versuchen, sie zu besiegen. Maria sehnt sich, sie sehnt sich so sehr danach, eine Frau zu sein, geliebt zu werden, das eigene Herz zu spüren, jeden Tag. Der Henner ist 23 Jahre älter, ein undurchschaubarer Genosse, den die Autorin in den Halbschatten stellt, sodass man ihn nie klar erkennen kann und das Misstrauen wach bleibt.
Irgendwann werden wir uns alles erzählen ist ein grandios geschriebener Roman, heiß und aufregend wie ein Sommer, brutal und heftig wie ein Gewitter. Ich liebe es, wenn ein Buch mich zu sich saugt und zum Lesen zwingt, wie dieses es getan hat, weil es eigenwillig, spannend, erotisch und verstörend zugleich ist. Die wilde Mischung aus Erwachsenwerden, hartem Sex, Deutschlands Politik und der Suche nach Liebe findet durch die Feder von Daniela Krien eine erstaunlich konsequente, glaubwürdige und interessante Stimme im Gedankenstrom einer Siebzehnjährigen. Figurenzeichnung, Handlung und Stil sind genial, die Atmosphäre ist aufgeladen, es knistert, es stürmt und kracht. Rau und roh und entfesselt ist dieses Buch, das ich jedem ans Herz legen möchte, der sich nicht vor Blitz und Donner fürchtet.
Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge: die drückende Hitze wird auf dem Cover sichtbar.
… fürs Hirn: die Faszination darüber, dass Gefahr so neugierig macht.
… fürs Herz: die berühmte Anziehungskraft der Bad Boys, die Gefühle, eine Mischung aus Gewalt und Zärtlichkeit
… fürs Gedächtnis: Respekt vor der Autorin.
Meisterhaft, jawohl! Ein beeindruckender Debütroman von einer ungeheuren Wucht – schön, dass er auch dich gefangen nehmen konnte. Ich bin sehr, sehr gespannt, was wir von Daniela Krien noch lesen dürfen. Eine ganz große Entdeckung!