„Das Leben wird beim Lesen größer. Es wird reicher“
„Wörter, die geschrieben wurden, vergessen nichts und bewahren alles, vielleicht liegen sie irgendwo in der Vergessenheit und in der Dunkelheit, aber sie leuchten auf, sobald jemand in ihre Richtung schaut.“ Der Junge weiß das, und er ist nicht untalentiert im Umgang mit Worten – was ihn durchaus besonders macht in jenem abgeschotteten kleinen Fischerdorf in Island, wo er lebt. Man begegnet ihm mit Spott, aber auch Respekt. Bei einem Marsch durch den gnadenlosen Schnee verliert er beinahe sein Leben und muss sich im Haus von Steinunn und Ólafur erholen. Die Wörter und die Literatur – besonders die Romane von Charles Dickens – sind ihm wichtig, aber es gibt etwas, das ihn verwirrt und ablenkt: die Frauen. Die rothaarige Alfheidur verdreht ihm den Kopf, und dass sie ihm, als er wieder zuhause in seinem Dorf ist, zwei Briefe schreibt, gibt ihm Rätsel auf. Zugleich verführt ihn die kokette Ragnheidur, und selbst betätigt er sich mit seiner Fähigkeit, die Worte aufzuwirbeln, als Kuppler. Schließlich brauchen die Isländer jemanden an ihrer Seite, der sie wärmt im bitteren Winter …
Bei Jón Kalman Stefánsson bin ich – entgegen meiner Gewohnheit – zum Wiederholungstäter geworden. Das Licht auf den Bergen hat mich vor einiger Zeit begeistert, und ich habe mir sein neues Buch gezielt aus den Neuerscheinungen von Piper herausgepickt. Ich bin also tatsächlich – um beim Sprachbild zu bleiben – noch einmal nach Island gereist. Und dort ist es immer noch kalt und verlassen. Jón Kalman Stefánsson, der für diesen Roman mit dem Isländischen Buchhändlerpreis ausgezeichnet wurde, lässt darin einen namenlosen Erzähler, der nur „der Junge“ genannt wird, berichten, wie es ist, erwachsen zu werden an einem Ort, an dem Schnee und harte Arbeit vorherrschend sind. Island wird stets als ein raues Land dargestellt, das bevölkert ist von Trollen und Feen – etwas Magisches ist allerdings in Das Herz des Menschen nicht zu finden.
Der Fokus liegt auf dem Phänomen, das jungen Männern in der Pubertät begegnet: dass ihnen das Blut aus dem Gehirn hinaus- und in die Lenden hineinschießt. Der Autor wird dabei aber niemals vulgär oder trivial, vielmehr schmückt er sein Thema, das mich ein wenig schmunzeln und ein wenig seufzen lässt, mit gnadenlosen Beobachtungen, stimmigen Lebensweisheiten und subtilen Zwischentönen: „Wir sind nicht immer gleich, die Anwesenheit anderer verändert uns, zieht jeweils andere Register in uns und nur höchst selten alle auf einmal, in jedem Menschen gibt es verborgene Welten, und manche von ihnen kommen nie zum Vorschein“ und: „Ich gehe, und er wusste sofort, was sie damit meinte, aber am besten tut man so, als hätte man keine Ahnung, worum es geht, wenn das Leben um einen herum in tausend Stücke fällt.“ Viel Gewicht liegt auch auf der Leidenschaft des Jungen für Bücher, Wörter und ihre Kraft – ungewöhnlich an einem Ort, an dem es um genug Nahrung für den Winter und die Versorgung der Familie geht. In diesem Aspekt des Buchs fühle ich mich freilich bestens aufgehoben, und ich finde spitze, kluge Sätze dort: „Wörter können Auswirkungen auf Menschen haben, das solltest du eigentlich wissen, nicht zuletzt die Wörter, die auch noch niedergeschrieben wurden, sie dringen in dich ein und lassen dich nicht in Frieden, das ist nicht einfach, und währenddessen soll man noch sein normales Leben weiterführen, als wenn nichts gewesen wäre.“ Dieser Roman überzeugt nicht durch Inhalt, denn die Geschichte an sich ist fast ein wenig flach, sondern durch Sprache und Atmosphäre. Jón Kalman Stefánsson schreibt sehr bedacht, jedes Wort stimmt, jedes Gefühl auch.
Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge: für mich eines der schönsten Cover bisher im Jahr 2013.
… fürs Hirn: die Geschichte an sich erfordert keine Hirnarbeit, eher ein Fallenlassen.
… fürs Herz: erste Liebe, erste Triebe vor der Kulisse Islands.
… fürs Gedächtnis: dass ich irgendwann wirklich nach Island reisen muss.
Das Herz des Menschen von Jón Kalman Stefánsson ist erschienen im Piper Verlag (ISBN 978-3-492-05548-2, 416 Seiten, 22,99 Euro).
Liebe Mariki,
dies scheint ein Buch wie für mich geschaffen, wenn ich mir deine letzten Sätze genau betrachte. 🙂 Welch’ Glück habe ich doch, dass ich von diesem Autor bereits ein Exemplar im Regal zu stehen habe: “Der Schmerz der Engel”. Dieses hier merke ich mir aber trotzdem vor wegen all der schönen Worte von dir und der besonderen Zitate.
Sei lieb gegrüßt,
Klappentexterin
Liebe Klappentexterin,
das Buch, das dein Regal ziert, kenne ich nicht, aber ich denke, dass der Autor sich durchwegs mit seinem besonderen Zauber auszeichnet. Mir hat allerdings “Das Licht auf den Bergen” besser gefallen als dieser neue Roman. Ich bin gespannt auf deine Eindrücke!
“Das Knistern in den Sternen” war mein erstes und bisher einziges Buch von Stefánsson. Ich erinnere mich, nach der Lektüre weitere Werke recherchiert und auf die imaginäre to be read Liste gesetzt zu haben. Deine Rezension hat den Autor wieder in Erinnerung gerufen, vielen Dank 🙂
Den Autor solltest du auf jeden Fall auf die reale To-be-read-Liste setzen 😉