Auf der Suche nach der eigenen Identität
„Wenn man mitten im Getümmel des Lebens steckt, dann kommt es einem wie ein einziges Desaster vor, Shannon – eine Überraschung jagt die nächste. Doch wenn man dann später auf sein Leben zurückblickt, wirkt es wie ein plausibler Handlungsablauf. Eine Sache führt zur nächsten. Und so weiter. Man beginnt, den kausalen Zusammenhang zwischen allem zu erkennen.“ Doch für Shannon ist es schwierig, solche Zusammenhänge zu finden und den roten Faden in ihrem Leben zu erkennen: Sie weiß nicht, wer ihre Eltern sind und wo ihre Wurzeln liegen, sie weiß nicht, wer sie ist. Ihre Mutter hat sie als Baby anonym weggegeben, und erst mit fünf Jahren landet sie bei Miranda und deren Tochter Lydia-Rose, wo sie bleiben kann. Dort führt sie ein normales Leben, das von Zuneigung, aber auch von Streitigkeiten geprägt ist. Doch da ist dieses Sehnen in ihr, das nicht vergeht: „Ich möchte wissen, wer meine Mutter ist. Ich möchte wissen, wer meine richtige Familie ist, wo ich wirklich hingehöre, warum ich so aussehe, warum ich solche Gefühle habe. Ich möchte diese Dinge wissen – mehr als alles andere auf der Welt.“ Also macht Shannon sich auf die Suche – nach ihrer Mutter und ihrer Geschichte.
Der Roman Hier könnte ich zur Welt kommen lebt von der intensiven und einfühlsamen Erzählweise Marjorie Celonas. Die kanadische Autorin lässt ihr Debüt in ihrer Heimat Vancouver Island spielen, wo die Winde rau sind und die Menschen auch. Marjorie Celona hat für ihre starke Story über ein adoptiertes Mädchen die Ich-Perspektive gewählt, und Protagonistin Shannon berichtet über Zeiten und Dinge, von denen sie nichts wissen kann: die eigene Geburt, die ersten Lebensjahre in der Obhut diverser Pflegefamilien. Abwechselnd wird von Shannons Aufwachsen und den Umständen ihrer Geburt erzählt, bis Gegenwart und Vergangenheit zusammentreffen – und zu einer Geschichte voll Versagen und Schmerz, Menschlichkeit, Trauer und Sehnsucht verschmelzen. Shannons Wut und Traurigkeit sind stets greifbar, sie fühlt sich abgeschnitten, verloren, und ich kann mir vorstellen, wie schlimm es sein muss, die eigenen Wurzeln nicht zu spüren – auch wenn es natürlich nur eine theoretische Vorstellung bleibt. Was ihrer eigentlichen Familie geschehen ist und warum Shannons Mutter das Baby weggelegt hat, erschüttert und betrübt mich zutiefst – durch den Egoismus zweier Menschen zerbrach einst alles, und sie tragen viele Jahre später noch schwer an ihrer Schuld. Das zu lesen, tut richtig weh, ich will eingreifen in den entscheidenden Sekunden und alles verhindern. Hier könnte ich zur Welt kommen ist bewegend, aber niemals kitschig und überrascht mich mit einem in meinen Augen realistischen Ende, das perfekt zur Geschichte passt. Eine richtig gute Entdeckung im Frühjahrsprogramm 2013.
Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:ein Hingucker!
… fürs Hirn: die Überlegung, wie es sich anfühlen muss, ein derart ungewolltes Kind zu sein.
… fürs Herz: viel Wut, Schmerz und Einsamkeit.
… fürs Gedächtnis: die schreckliche, unfassbar traurige Geschichte von Eugene.
Hier könnte ich zur Welt kommen von Marjorie Celona ist erschienen bei Suhrkamp/Insel (ISBN 978-3-458-17562-9, 347 Seiten, 19,95 Euro).
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