„Das war in einem anderen Leben.“ „So eins hatte ich auch schon mal.“
Grace ist Therapeutin und lebt in Montréal. Beim Langlaufen findet sie im Schnee einen Mann, der gerade versucht hat, sich an einem Baum zu erhängen. Sie rettet ihn und steigert sich so sehr in ihr Helfersyndrom hinein, dass die Grenzen zwischen Hilfsbereitschaft und Verliebtheit verschwimmen: „Sie kehrte dann zurück ins Wohnzimmer, zu diesem Menschen, den sie kaum kannte, diesem dunklen, schwierigen Mann, und küsste ihn. Manche Dinge waren einfach zu intensiv, um sie langsam anzugehen.“ Das alles geschieht 1996. Im New York des Jahres 2002 versucht Annie, als Schauspielerin Fuß zu fassen. Sie war einst Grace‘ Patientin und ist von zuhause weggelaufen – genau wie die junge, schwangere Hilary, die obdachlos ist und sich bei Annie einnistet. Annie denkt nie an Grace, deren Leben sie 1996 verändert hat. Mehr Präsenz nimmt Grace dagegen in den Erinnerungen ihres Exmanns Mitch ein, der in die Arktis zu einer Inuit-Gemeinde flüchtet, um sich klar darüber zu werden, ob er bei seiner Freundin und ihrem autistischen Kind bleiben will. Während seiner Abwesenheit wird ihm die Entscheidung abgenommen, das Leben geht weiter – und als er Grace wiedertrifft, wird auch offenbar, was damals geschehen ist zwischen ihr und dem lebensmüden Fremden.
Die kanadische Autorin Alix Ohlin erzählt in ihrem zweiten Roman von drei Menschen – Grace, Mitch und Annie –, die sich einst kannten, aber eigentlich nichts miteinander zu tun haben. Ihr jeweiliges Leben ist geprägt vom Versuch der Selbstbestimmung und vom Scheitern. Die Schriftstellerin hat drei völlig verschiedene Charaktere gewählt: Grace ist selbstbewusst, herzlich und aufdringlich, Annie gibt sich karrieregeil und rücksichtslos, hat aber ein weiches Herz, und Mitch steht sich selbst im Weg. Alix Ohlin widmet sich ihren Figuren so liebevoll, dass es ihr gelingt, mein Interesse für deren Geschichten zu wecken, auch wenn sie am Ende eher belanglos bleiben. Gemeinsam ist den dreien, dass sie versuchen, jemand anderem zu helfen, und dabei sich selbst verlieren. Als Rahmen nutzt die Autorin dabei die Beziehung zwischen einem Therapeuten und einem Patienten, denn auch Mitch ist wie Grace Therapeut. Die Ausgangssituation – dass Grace einen Mann trifft, der sich soeben umbringen wollte – ist natürlich spannend, und ich bin ebenso begierig darauf, sein Geheimnis zu erfahren, wie sie. Als dieses Geheimnis, die Ursache für den Selbstmordversuch, dann jedoch ans Licht kommt, bin ich fast ein wenig enttäuscht, weil es mir ein bisschen abgedroschen erscheint. Was angesichts des Unglücks, das dahintersteht, eine harte Aussage ist, aber in diesem Punkt hat Alix Ohlin sich in meinen Augen ein wenig verzettelt, denn plötzlich kommen noch so viele Schicksale zum Tragen, dass sie angesichts der Kürze nur oberflächlich dargestellt werden können, was sehr schade ist. Sie zündet hin und wieder kleine Knallfrösche, aber die große Bombe, auf die ich warte, bleibt aus. Trotzdem ist dieser Roman aufgrund seines Unterhaltungswerts und Alix Ohlins angenehmen Stils sehr lesenswert, und ich habe ihre drei kleinen Alltagshelden gern für eine Weile begleitet.
Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge: ein sehr stilvolles Cover!
… fürs Hirn: gute Anklänge und ein gekonnter Schreibstil, aber ich hätte mir mehr Sprengkraft gewünscht.
… fürs Herz: viel Menschlichkeit.
… fürs Gedächtnis: ein nettes, harmloses Lesevergnügen.
In einer anderen Haut von Alix Ohlin ist erschienen bei C. H. Beck (ISBN 978-3-406-64703-1, 351 Seiten, 19,99 Euro).
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