„Aber alles passiert, wenn es passiert, zum ersten Mal“
Alle sieben Jahre flippen die Bewohner von Bergenstadt ein bisschen aus: Drei Tage lang wird beim Grenzgang gewandert, gelacht und gesoffen. Es ist ganz Bergenstadt ernst mit dieser alten Tradition, die immer gleich abgehalten wird, es gibt Vereine, Fahnen, Abzeichen, Rituale. Sieben Jahre lang freuen sich alle auf dieses Wahnsinnsfest, das den Ort für kurze Zeit aus seiner Belanglosigkeit reißt. Ehen entstehen und zerbrechen beim Grenzgang – wie jene von Kerstin, die ihren Mann Jürgen einst bei diesem kollektiven Besäufnis kennengelernt hat und seinetwegen ihre Karrierepläne aufgab, um in dem hessischen Kaff zu bleiben. Mittlerweile ist Jürgen der Mann einer anderen, der gemeinsame Sohn pubertiert, und Kerstins Mutter wird zum Pflegefall. Aus ihrem Selbstmitleid gerissen wird Kerstin von Thomas, einst Uni-Professor und mittlerweile Lehrer ihres Sohnes, mit dem sie eine Erinnerung an den letzten Grenzgang teilt, der beide mit gemischten Gefühlen gegenüberstehen. Und bald beginnt das verrückte Fest erneut …
In seinem Debütroman Grenzgang, der 2009 auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis stand, macht Stephan Thome einen kleinen Ort in Hessen zum Schauplatz, der in seiner Beschaulichkeit und Beliebigkeit für jede deutsche Kleinstadt stehen mag, in der wie überall geliebt und betrogen, nach dem Glück gesucht und viel geweint wird. Alle sieben Jahre findet der Grenzgang statt, und alle sieben Jahre setzt Stephan Thomes Erzählung ein. Alle wichtigen Ereignisse im Leben von Protagonistin Kerstin hängen direkt oder indirekt mit dem Grenzgang zusammen, sie treten im Roman jedoch nicht in chronologischer Reihenfolge auf. Der Autor konzentriert sich hauptsächlich auf 1999 und 2006, reist aber auch in die Vergangenheit und gibt einen Ausblick in die Zukunft.
Kerstin ist in jeder Hinsicht das Abziehbild einer deutschen alleinerziehenden Mutter Mitte vierzig: Sie hadert mit dem Alter und dem Wissen, gegen eine Jüngere ausgetauscht worden zu sein, findet keinen Zugang zu ihrem Teenager-Sohn und hat nur oberflächliche Freundschaften. Der Hausfrauenfrust macht ihr ebenso zu schaffen wie die zunehmende Pflegebedürftigkeit ihrer Mutter. Alle jugendliche Leichtigkeit und Unbeschwertheit sind verschwunden, und der Swingerclub, in dem Kerstin letztlich mit ihrer Nachbarin landet, hat den abgefuckten Charme eines Orts, der von Verzweiflung durchdrungen ist. Ich habe tiefes Mitgefühl für Kerstin, und zugleich geht sie mir furchtbar auf die Nerven. Stephan Thome erzählt in diesem Provinzroman von dem Leben einer Frau und dem Leben eines Mannes, das so ist, wie eben alle unsere Leben: absolut belanglos. „Zeit totzuschlagen ist so ein Ausdruck, den sie nie recht verstanden hat – eher ist es doch ein langsames Strangulieren, und die eigentliche Henkerskunst besteht auch nicht darin, Minuten oder Stunden rumzubringen, sondern Jahre.“ Tiefe Resignation durchzieht dieses Buch, der Erzählton ist recht sachlich und nüchtern. Die Idee mit den Sieben-Jahres-Zeitsprüngen gefällt mir gut, und es ist dem Autor exzellent gelungen, die Klischees und Schemata einzufangen, um die sich das Leben in deutschen Kleinstädten wickelt: verliebte Blicke und Versprechungen, auf die das Zerbrechen von Beziehungen am langweiligen Alltag folgt, danach Einsamkeit und die Suche nach einem, der sich nebenbei auf die Couch setzt. Damit all das halbwegs erträglich wird, dürfen die Bürger im geregelten Rahmen alle sieben Jahre durchdrehen – weil ja sonst nichts passiert. Und ein bisschen wünschte ich mir schon, es wäre in diesem Buch mehr passiert.
Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge: gut gemacht!
… fürs Hirn: wie spießig wir doch alle sind …
… fürs Herz: … und wie austauschbar.
… fürs Gedächtnis: ein Zitat, das die Resignation elegant auf den Punkt bringt: „Wir sind erwachsen, wir haben zu viele Rechnungen gesehen, um an Gratisangebote zu glauben.“
Eine grandiose Rezension findet ihr auf den Schönen Seiten von Caterina, die sogar beim echten Grenzgang in Biedenkopf mitgewandert ist.
Schade, dass dich der Roman nicht ganz überzeugen konnte, ich selbst hatte vor der Lektüre keine großen Erwartungen und war dann umso glücklicher. Und wenn man dann auch noch diesen Wahnsinn selbst miterlebt, wird die Geschichte noch mal auf eine ganz andere Weise in einem lebendig. Danke für die Verlinkung!
Nein, glücklich gemacht hat er mich leider nicht. Ich fand ihn durchaus gut und interessant, bin aber manchmal zwischendrin aufgrund von Längen steckengeblieben oder hätte mir einfach mehr “Drive” gewünscht. Was widersinnig ist bei einem Buch über die Eintönigkeit des Dorflebens, schon klar, aber durch die ganze Langeweile im Leben von Kerstin kam auch bei mir ein bisschen Langeweile auf. Dass du mitgewandert bist, find ich toll, dadurch hast du sicher noch einen ganz anderen Bezug zum Buch!
Ups, deine Besprechung liest sich so ganz anders als bei caterina. Ich hatte das Buch bislang auf meiner Wunschliste, doch jetzt wackelt es auf seinem Platz, weil mir zwei Wörter gar nicht gefallen: sachlich und nüchtern. Du weißt ja, ich liebe eigentlich das Gegenteil.
Viele Grüße,
Klappentexterin
Hm, liebe Klappentexterin, was tue ich nun, ich mag dir ja nicht abraten von diesem Roman, denn vielleicht gefällt er dir doch … aber ja, ich habe das Melodische, Poetische, Umgarnende vermisst und fand es wirklich recht nüchtern. Was sprachlich in diesem Fall besser zum Inhalt passt, aber nicht zu mir (und dir). Vielleicht hilft dir eine Leseprobe im Internet weiter …?
Ich glaube, was Mariki als “sachlich und nüchtern” bezeichnet, habe ich mit “präzise” umschrieben, unser Eindruck ist also derselbe. Verspielt, verträumt, verschnörkelt kann man Thomes Stil jedenfalls nicht nennen. Sprachliche Nüchternheit finde ich persönlich bisweilen durchaus reizvoll, gerade in Romanen wie diesem, wo sie ja den Inhalt widerspiegelt. Zumal ich hier trotzdem auch von einer sprachlichen Raffinesse sprechen würde, Nüchternheit also keinesfalls mit “Kargheit” oder gar “Härte” gleichsetzen würde. Für mich haben Thomes präzisen, immer treffenden Worte eigene ganz eigene Poesie inne, auch wenn “poetisch” hier nicht gleich “lyrisch” oder “magisch” ist. Für Leute, die sich von einem Buch aufwärmen lassen möchten, vielleicht doch nicht ganz das Richtige.
Bzw. Leute, die sich von einem Buch “auffangen” lassen möchten. Denn was uns Grenzgang über das Leben sagt (zumindest das Leben in der Provinz), ist nicht nur nüchternd, sondern ernüchternd, aber auf sehr aufrichtige, realistische und somit – wie ich finde – sypmathische (und mitunter auch komische) Weise.
So viele schöne passende Adjektive … da schließe ich mich an.
Klingt auf jeden Fall spannend! Ich glaube, ich werde mal reinlesen!
lg, Cara
Liebe Cara,
reinlesen solltest du auf jeden Fall! Vielleicht bist du ja dann gleich “hooked” 😉