„Nichts ist so wandelbar wie das Bild, das wir von uns selbst haben“
Drei Jahre musste Mariam zuhause in Äthiopien warten, bis sie ihrem Mann Josef nach Amerika folgen konnte. Dort angekommen, sehnt sie sich zurück in die Heimat, denn der Mann ist ihr ebenso fremd wie das Land und die Sprache. Mit dem Auto brechen die beiden, die sich kaum kennen, zu einer Hochzeitsreise ohne nennenswerte Highlights auf, einer Reise, die mit Gewalt beginnt und mit Gewalt endet. Dreißig Jahre später folgt Jonas, der Sohn von Mariam und Josef, den Spuren seiner Eltern und versucht zu ergründen, was auf dieser Reise geschehen ist und warum seine Jugend im lieblosen Elternhaus ihn nicht loslässt. Er hat seine Frau verlassen, ist geflohen vor den Problemen, die sich in der Ehe angehäuft haben wie Müllberge, und er hat den einzigen Job, den er je gern gemacht hat, verloren. Was er sucht, kann er nicht finden: Erlösung. Aber womöglich, so hofft er, öffnet sich ein Ausweg.
Die Melodie der Luft von Dinaw Mengestu, der in Äthiopien geboren und nach Amerika geflohen ist, ist ein vielschichtiges Buch. Es geht darin um Einwanderung, Entwurzelung und Fremdsein, um die Schwierigkeiten, die jede zwischenmenschliche Beziehung prägen, und um den Einfluss, den Eltern auf ihre Kinder haben. All diesen Themen widmet der Autor sich in seiner Geschichte, die er abwechselnd von Jonas in der Gegenwart und von Mutter Mariam in der Vergangenheit erzählen lässt. Feine, poetische Worte findet er für die Traurigkeit und die Ratlosigkeit, die auf diesen beiden Menschen liegen, und ich mag viele seiner Sätze, weil sie die Gefühle geschickt einfangen: „Hab keine Angst, ich bin gleich wieder da. Sie sagte es auf Englisch, der Sprache, die sie immer dann benutzte, wenn sie nicht sicher war, ob sie die Wahrheit sagte.“
Obwohl ich mich sowohl mit Jonas als auch mit Mariam auf einer Reise befinde – auf der gleichen Reise auf demselben Weg, nur zeitversetzt –, habe ich den Eindruck, mit diesem Buch nirgendwo anzukommen. Ich weiß nicht, wohin es mich führen soll, und die Erkenntnisse, die ich mir von meiner Spurensuche gemeinsam mit Jonas erwartet habe, bleiben aus. Am Ende blicke ich zurück auf eine einsame Straße, gepflastert mit schönen Sprachbildern, aber genauso leer wie zu Beginn. Vielleicht habe ich zu den beiden Figuren nicht genug Zugang gefunden, um jenes Mitgefühl zu entwickeln, das sie gebraucht hätten. Ihr Schicksal ist letztlich, wie unser aller Schicksal, banal, und es dauert erschreckend lange, bis sie es selbst in die Hand nehmen. Dinaw Mengestu hat sie ausgestattet mit einer Vergangenheit, mit Ängsten und Hoffnungen, aber sie bleiben dennoch Figuren, denen all ihre Eigenschaften anhaften wie Kleider aus Papier. Sie sind mir zu wenig lebendig, und ich möchte sie mehr als einmal gern auffordern, doch bitte wenigstens laut zu schreien, um zu zeigen, dass sie existieren. Uns allen gemeinsam ist zum Schluss eine große Orientierungslosigkeit, aber vielleicht ist das ja auch die zutreffendste Aussage, die man über das Leben machen kann: Sicher ist nichts.
Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge: ein schönes, geheimnisvolles Cover.
… fürs Hirn: viele Themen, die angeschnitten werden, eines davon trauriger als das andere – man bleibt sehr desillusioniert zurück.
… fürs Herz: der Gedanke, dass wir es nicht schaffen können, die Liebe zu halten, nie.
… fürs Gedächtnis: die schreckliche Szene mit Josef und Mariam im Auto, zu Beginn ihrer Reise.
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