„Es heißt, die Windböen an Sturmtagen seien die Toten, die keine Ruhe finden“
„Ich gehöre zu den Leuten, die man nicht sieht“, sagt die Ich-Erzählerin und sorgt auch ganz absichtlich dafür, dass das so bleibt: Sie verkriecht sich in La Hague, einer rauen Küstenstadt in der Normandie, lebt dort zusammen mit einem Bildhauer und seiner Schwester in einer WG. Sie verdient ihr Geld damit, die Vögel beim Kommen und Gehen zu beobachten, und sie ist gern allein. Sie hat einen Verlust erlitten, der sie ausgebrannt hat, die Liebe gibt es nicht mehr in ihrem Leben. Als der rätselhafte Lambert im Dorf auftaucht, ist bald klar, dass er nicht so fremd ist, wie er scheint: Er war als Kind schon hier und hat als Jugendlicher das Schlimmste erlebt, denn seine Eltern und sein kleiner Bruder sind bei einem Ausflug im Meer ertrunken. Nun will Lambert das Haus verkaufen und Abschied nehmen. Doch zuvor braucht er endlich eine Antwort auf die Frage, die ihn seit 40 Jahren quält: Hat der alte Théo damals tatsächlich das Licht im Leuchtturm ausgemacht? Ist er schuld am Tod von Lamberts Familie? Die Protagonistin spürt, dass Lambert ein Einsamer ist wie sie und fühlt sich von ihm angezogen. Nicht Verliebtheit entsteht zwischen ihnen, aber doch eine Art Einverständnis. Und sie entdeckt Überraschendes bei dem Versuch, Lambert zu helfen …
Die Brandungswelle von Claudie Gallay ist ein sehr melancholisches Buch. Die Ich-Erzählerin ist in dem rauen Küstenort keine Einheimische, aber sie verschmilzt perfekt mit dem Grau, dem Nebel, der Meeresgischt, sie hat in La Hague ein Zuhause für ihre Einsamkeit gefunden, die sie hier zelebrieren kann. Und ihre Geschichte war in Frankreich ein Bestseller, der sich auch in zahlreiche Länder verkaufte. Es geht um Abschied und Neuanfang, um den Tod und das Allein-Zurückbleiben. Und es geht um das Meer, das seine Toten niemals wieder zurückgibt. Die Brandwungswelle ist ein Roman, der von der Inszenierung und Hochstilisierung der Traurigkeit, der Abgeschiedenheit und der deprimierenden Atmosphäre lebt. Diese alles umfassende düstere Stimmung spiegelt sich in Sätzen wie: „Man sagt hier, der Wind sei manchmal so stark, dass er den Schmetterlingen die Flügel fortreiße“ oder „Am Abend, im Hof, das Sternenlicht in den Wellen. Zitternde Lichter. Wie ertrunken.“ Dominierend in Die Brandungswelle sind die Naturgewalten, denen der Mensch wenig entgegenzusetzen hat und denen er immer wieder seine Liebsten opfern muss. Dominierend ist auch der Schmerz, den dieser Verlust verursacht. Die Ich-Erzählerin trägt schwer an diesem Schmerz und daran, dass die Liebe sie verlassen hat – in Form jenes Mannes, den sie mit Du anspricht: „Ich wäre gern erstickt und mit dir begraben worden.“ Sie kann nicht verhindern, dass sie den ihr fremden Lambert, zu dem sie sich hingezogen fühlt, weil er ebenso leidet wie sie, mit ihrem verstorbenen Mann vergleicht: „Es hätte zehn seiner Hände gebraucht, um daraus eine einzige von deinen zu machen.“
Die Brandungswelle zieht mich hinunter. Derart schwermütig ist das Buch, dass ich ab einem bestimmten Zeitpunkt merke, wie ich mich mit aller Kraft gegen den eisernen Anker stemme, der mich auf den Meeresgrund sinken lässt. Ich will zurück ans Licht, ich mag nicht mehr. Dabei trifft Melancholisches meinen Lesegeschmack prinzipiell sehr gut – aber ich ertrage es nicht, 550 Seiten lang deprimiert zu sein. Andere Leser meinten im Austausch, es ginge bei diesem Roman eben um die Stimmung – aber dass die Stimmung gewaltig trübsinnig ist, das habe ich ja auch nach wenigen Seiten schon verstanden. Und inhaltlich bietet mir Die Brandungswelle nicht viel anderes als – durchaus plastische – Landschaftsbilder vom Meer, von Höhlen und den darin brütenden Vögeln, viele griesgrämige Einwohner und ein sehr wohl interessantes Rätsel, das ich aber gelöst habe, lange bevor das Buch zu Ende ist. Claudie Gallay schreibt sehr feinsinnig, eindrucksvoll und melodisch, und ich habe an ihrer schönen Geschichte nur auszusetzen, dass sie mir zu sehr mit grauen Schlieren durchzogen und mit depressiven Schüben durchwirkt war. Ich habe mich stellenweise sehr wohlgefühlt in dieser eleganten Sprache – und mich andernorts gelangweilt. Da nirgends Licht zu sehen war in dieser Finsternis, war die Reise übers Meer mit Claudie Gallay für mich sehr anstrengend. Ich weiß aber, dass Die Brandungswelle viele begeisterte Leser hat – verdienterweise, wie ich finde. Ich bin womöglich einfach zu ungeduldig.
Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge: eine sehr schöne Idee mit den Wellen, die in der Form aussehen wie ein Mensch.
… fürs Hirn: die Trauer darum, jene Momente nicht ungeschehen machen zu könen, die uns viel gekostet haben.
… fürs Herz: sehr viel Schmerz, Traurigkeit, Einsamkeit, aber auch ein vorsichtig glimmendes Licht am Leeresufer.
… fürs Gedächtnis: die alles überschattende Schwere.
Pingback: Lesetipps der Bücherrunde | Stadtbibliothek Klausen - biblioteca civica di Chiusa