“Ich bin eine Grille, ich spiele Lieder in der Sonne”
„Wir lebten am Rand der Welt und konnten jederzeit herunterfallen.“ Im Fall von Ludwig ist das wörtlich gemeint: Früher wohnte er mit seiner Mutter an der englischen Ostküste in einem Haus, das so nah an den Klippen stand, dass das Meer ihnen den sandigen Boden unter den Füßen wegfraß – bis schließlich alles versank. Auch zuvor hatte Ludwig einmal seine Heimat verloren, als er nach dem Weggang des Vaters mit seiner Mutter Alexandria verließ. Nun ist er erwachsen, verdient sein Geld als Pianist in Bars und kehr für eine Beerdigung nach Reading zurück. Die Asche seiner Mutter hat er in einer Urne bei sich. Was ist geschehen zwischen damals und heute? Ludwig erzählt es seiner Barbekanntschaft in den gemeinsamen Nächten: wie er seiner Mutter, einer Pornodarstellerin, in die USA folgte und sich dort verliebte und wie er schließlich den Vater, einen der Welt entrückten und völlig wahnsinnigen Künstler, fand.
Tommy Wieringa ist ein vielgerühmter Autor, der 2006 mit Joe Speedboat Beachtung fand. Ich bin durch eine Empfehlung zu diesem Schriftsteller gekommen – aber ich konnte seinem zweiten Roman wenig abgewinnen. Zwar klingt die Geschichte in ihren Möglichkeiten vielversprechend – Mutter Pornodarstellerin, Vater Künstler, wie entwickelt sich der Sohn? –, doch in der Umsetzung war sie mir zu langweilig. Protagonist Ludwig hat sich zwar viel bewegt in jungen Jahren, er wurde abgeschoben, umgesiedelt, zurückgelassen, aber wenig davon, so scheint es, hat ihn bewegt. Natürlich ist seine abgebrühte Art nur ein Schutz – aber ich möchte von solchen Männern, die nie Zugang zu ihrer Gefühlswelt geben, nicht lesen. Ludwig wirkt auf mich wie einer jener Männer, die reden und reden und dabei wenig sagen. Er schneidet sich seine große Liebe grundlos aus dem Herzen und gibt sich cool.
Nur für seine Mutter bringt Ludwig sehr wohl Gefühle auf – und zwar sexueller Art. Das ist irritierend. Vielleicht möchte der Autor damit ausdrücken, dass Ludwig mit der Berufswahl seiner Mutter nicht klarkommt. Doch schon als kleiner Junge ist Ludwig von seiner Mutter erregt und später sagt er beispielsweise: „Du schamloses Wesen, dachte ich, mit deinen herrlichen Titten. Ich sah ihr nach, ihrem prallen Po und ihren vollen Schenkeln. Ich warf meine Kleidung ab und folgte ihr. Als ich den Kopf untertauchte, dachte ich an ihren Urin, in meinem Zustand war alles sexuell aufgeladen.“ Ludwigs Konzentration auf seine Mutter hat krankhafte Auswüchse, dennoch ist ihre Beziehung nicht liebevoll. Dass dieses Tabu gebrochen wird, stört mich nicht weiter, aber da sich mir der Grund dafür nicht erschließt, fühle ich mich klarerweise abgestoßen. In all diesen Geflechten im Buch gibt es mit Sicherheit noch mehr zu entdecken, aber mir fehlte das Interesse, nach Bedeutsamkeit zu suchen. Denn Tommy Wieringa hat mit seinem Stil meinen Lesegeschmack nicht getroffen. Ich wünsche mir Bücher, deren Sprache wie eine Melodie erklingt, ganz egal, in welchem Tempo, und abgeschmackte Sätze wie „So ist das Leben, Herzchen … So ist es, wenn man erwachsen wird“ ertrage ich nur schwer. Der verlorene Sohn und ich sind uns nicht nahe gekommen.
Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge: Hanser-Cover sind in ihrer kraftvollen Schlichtheit immer sehr schön. Auch wenn ich nicht weiß, was das mit dem Pferd soll.
… fürs Hirn: die Frage: Was tust du, wenn du einen Porno anschaust und auf einmal deine Mutter mitspielt?
… fürs Herz: Ludwigs Verlorenheit.
… fürs Gedächtnis: merke: weniger online kaufen und öfter in einer Buchhandlung in ein Buch reinlesen. Dann wäre dieser Fehlgriff nicht passiert.
Danke für diese eindringliche Warnung – das Buch fliegt sofort wieder von der Wunschliste!
Uff ;o) (Aber vielleicht hätte es dir gefallen?)
Wenn ich meinen Kommentar nun noch einmal lese, klingt er wirklich ein bisschen hart – da würde ich auch “uff” sagen. Entschuldige bitte, man sollte vielleicht keine Kommentare schreiben, wenn man eigentlich arbeiten müsste … 😉 Aber ich glaube wirklich, dass ich das Buch erst einmal wieder streiche, ich habe eigentlich keine Zeit für nicht so ganz überzeugende Bücher. Kennst du von Wieringa “Joe Speedboat: Keine Zeit für Helden”? Das steht hier bei mir noch ungelesen im Regal …
Mit “uff” meinte ich eigentlich Erleichterung, dass du es nicht lesen wirst ;o)
Mir reicht oft eine schlechte Meinung, um das Buch nicht zu lesen – aber umgekehrt bekomme ich Gewissensbisse, wenn jemand meinetwegen ein Buch nicht liest, weil es ihm womöglich besser gefallen hätte… Wobei ich ja immer versuche, meine Ablehnung mit nachvollziehbaren Argumenten zu untermauern. Joe Speedboat kenne ich nicht…