Vom Hass als Gegenspieler und Bruder der Liebe
Zara hat es richtig scheiße erwischt. Sie folgt dem Versprechen auf Arbeit und Geld nach Westen – und landet als Prostituierte ohne Fluchtmöglichkeit in einem heruntergekommenen Bordell in Berlin. Sie ist Paschas persönliche Sklavin und muss lange auf den Moment warten, in dem sie entkommen kann, als sie gerade in Estland ist. Hier lebt jemand, der Zara vielleicht retten kann: Aliide. Erst bei ihrem Weggang hat Zara erfahren, dass ihre Großmutter in Estland eine Schwester hat, von der niemals gesprochen wurde. Aliide ist misstrauisch und hält Zara für den Lockvogel einer Räuberbande, nimmt sie aber aus Mitleid bei sich auf. Sie erkennt in Zaras Verhalten einen Schmerz, den sie selbst seit Jahrzehnten in ihrem Inneren verborgen hält – seit jener Nacht, in der ihr Gewalt angetan wurde. Jung und zuversichtlich war Aliide einst, und verliebt, über die Maßen verliebt in einen Mann, den sie nicht bekommen konnte. Die Eifersucht hat Aliide zu hinterhältigen Taten und zu einem großen, endgültigen getrieben, der viele Leben für immer veränderte. Aliide ist so hart wie die Zeiten und die Kriege, die sie erlebt hat. Und Zara, die ihr ausgeliefert ist, hinter der die Mafia her ist, weiß nicht, dass Aliides Hass auf ihre Schwester immer noch brennt …
Fegefeuer von der finnischen Autorin Sofi Oksanen ist ein vielfach ausgezeichnetes, sprachgewaltiges und aufwühlendes Buch. „Wer Äußerstes erlebt hat, ist auch zu Äußerstem bereit“ – diese Ankündigung aus dem Klappentext trifft voll und ganz auf beide Protagonistinnen zu. Aliide und Zara sind wie Gefäße, bis zum Rand angefüllt mit Demütigung, körperlichem Schmerz und Sehnsucht. Während Zara eine Verzweiflungstat begeht, um ihrer Opferrolle zu entkommen, hat Aliide Jahrzehnte zuvor rücksichtslos und ohne Gewissensbisse nach ihren eigenen Wünschen gehandelt – auf dem Rücken derer, die sie eigentlich hätte beschützen sollen. Jetzt ist sie alt, einsam, allein, verspottet, aber immer noch nicht unterzukriegen: „Kommt nur, kommt alle, Mafiaknechte, Soldaten, Rote und Weiße, Russen, Deutsche oder Esten, sollten sie doch kommen, Aliide würde überleben. Sie hatte immer überlebt.“ Das Überleben ist eines der zentralen Themen in diesem schockierenden Roman: das nackte Am-Leben-Bleiben, ohne Tageslicht vielleicht, ohne Hoffnung, ohne Liebe, aber leben, leben. Mit Schärfe und Präzision hat die Autorin die endlose Brutalität der Menschen im Umgang miteinander herausgearbeitet, die Lust am Leid der anderen, die Unsicherheit des Krieges.
Der Großteil der Handlung spielt in dem kleinen Dorf in Estland, in dem Aliide lebt. Ihre Erinnerungen an die estnische Zeit, an die Russen und die Deutschen gibt mir Einblick in die Geschichte dieses Landes, mit der ich mich zuvor nie im Detail beschäftigt habe. Es ist eine Geschichte, die – wie könnte es anders sein – von Vertreibung und Krieg erzählt, von Vergewaltigung, Hunger und Opportunismus. Scharfkantig und perfide ist dieses Buch, auf manchen Seiten springt es mich mit spitzen Krallen an und zwingt mich, mir schreckliche Bilder von Verletzungen anzusehen, äußerlichen und inneren. Mehr als einmal bleibt mir fast die Luft weg. Ich schätze es sehr, dass Sofi Oksanen nicht einfach zwei bemitleidenswerte Frauen kreiert hat, die von den Männern benutzt und vom Zeitgeschehen gebeutelt werden, sondern dass sie beide – aus unterschiedlichen Beweggründen – zu Täterinnen macht und dem Roman damit Gewicht und Glaubwürdigkeit gibt. Mein Mitleid gilt deshalb einer ganz anderen Frau im Buch. Dies ist ein Roman, der mich regelrecht in einen Sumpf zieht, und ich habe das Gefühl, über splitternde Knochen zu gehen und durch Angst zu waten. Ein sehr extremes, stilistisch ausgefeiltes, interessantes und bewegendes Leseerlebnis, das sicher niemanden kalt lässt.
Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge: tolles Lila! Die Fliege – naja, aber sie hat inhaltlichen Bezug.
… fürs Hirn: die Hintergründe des Romans liegen in der estnischen Geschichte, die so voller Gewalt ist wie die Vergangenheit jedes einzelnen Landes.
… fürs Herz: Zaras Zerbrochenheit.
… fürs Gedächtnis: mein Nach-Luft-Schnappen bei vielen Szenen.
Ich habe Fegefeuer vor etlichen Monaten gelesen und auch mich hat es sehr begeistert und beeindruckt. Ich freue mich schon jetzt auf den neuen Roman von Sofi Oksanen, der im nächsten Monat erscheint!
Ahaaa, das wusste ich gar nicht! Danke für den Tipp!
Ab! Auf! Die! Wunschliste!!!
Da! gehört! es! hin!
Eigentlich ja nicht, sondern sofort ins Bücherregal bzw. auf den Nachttisch! 🙂
Das wär natürlich noch besser… Auch unsere Blogger-Freunde waren allesamt bom Fegefeuer beeindruckt.
Der Titel klingt auf jeden Fall nicht schlecht. Ich bin gespannt, ob sich unsere Meinungen über das buch später decken;)
Ich auch! Viel Spaß bei der Lektüre!
Ich habe das Buch fast durch und abgesehen von der Gewalt (das kann ich im Moment nicht so gut), finde ich auch, dass es ein sehr berührendes Buch ist. Ich mag die Erzählstruktur und fand es außerdem spannend ein wenig mehr über die estnische Geschichte zu erfahren. Und dann war ich mir sicher, dass es hier bestimmt schon eine Rezension gibt 🙂
Die Gewalt hat mir auch Probleme bereitet. Nichtsdestotrotz bedeutet ja aber auch das, dass das Buch richtig gut geschrieben ist. Und das mit der estnischen Geschichte ist wirklich interessant!