Gänsehaut am ganzen Herzen
„Spontane Entschlüsse waren Harolds Sache nicht.“ Und trotzdem tut der Pensionist eines Tages etwas, das so spontan ist, dass es an Verrücktheit grenzt: Statt den Brief an seine frühere Arbeitskollegin Queenie abzuschicken, läuft er am Briefkasten vorbei und an der Post auch. Und dann einfach immer weiter. Er setzt sich in den Kopf, zu Queenie zu gehen. Das klingt noch nicht verrückt genug? Nun, Queenie liegt 1000 Kilometer von Harolds Ausgangsort Kingsbridge entfernt in einem Hospiz im Sterben. Und Harold hat nichts bei sich außer der Kleidung, die er trägt, seinen Segelschuhen, seiner Geldtasche und Queenies Brief. Er war nie verliebt in die Buchhalterin aus der Brauerei, in der er jahrzehntelang gearbeitet hat, aber sie hat ihm einmal selbstlos aus der Patsche geholfen – und Harold hat sich nie bedankt. Das will er nun nachholen, und er beschließt, den ganzen Weg zu Fuß zurückzulegen – einmal der Länge nach von Süden nach Norden durch England bis nach Berwick-upon-Tweed. Dieser Entschluss und diese Wanderung werden zu einer Zerreißprobe für Harolds Ehe mit Maureen. Sie sind sehr lange verheiratet und einander abhandengekommen, ihr Zusammensein besteht nur noch aus Schweigen oder Nörgeleien. Harolds unwahrscheinliche Pilgerreise zwingt Maureen zu der Erkenntnis, dass sie putzen kann, so viel sie will, der Schmerz über das, was vor Jahren geschehen ist, wird nicht weggehen. Während sie ihrem Mann in Gedanken wieder näher kommt, bringt er jeden Tag mehr Kilometer zwischen sich und Maureen: „Er zog die Schultern hoch und trieb seine Füße an, als laufe er nicht so sehr zu Queenie, sondern vor sich selbst davon.“
Rachel Joyce hat mit Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry einen Überraschungshit vorgelegt, und während der Lektüre erschließt sich mir das Geheimnis ihres Erfolgs: Dies ist ein Buch mit Herz. Wer es öffnet und sich auf die Geschichte einlässt, bekommt eine Gänsehaut am ganzen Herzen. Weil der Roman so ehrlich, schmerzhaft und berührend ist. Harold ist das Sinnbild für einen Menschen, der es sich bequem gemacht hat in seinem Leben wie in einem Bett, aus dem er nicht mehr aufstehen mag. Jedes Jahr dasselbe Urlaubsziel, zurückhaltende Beziehungen zu den Nachbarn, jeden Tag dieselbe Langeweile in der Arbeit – und zuhause immer dieselbe Frau, die lange schon in einem anderen Zimmer schläft. Harold ist sehr englisch, sehr verklemmt und traurig. Als Queenie ihm schreibt, dass sie stirbt, drängt viel Verschüttetes in ihm an die Oberfläche, und er kann nicht mehr stillhalten. Während er geht, denkt er nach über die Fehler, die er begangen hat, und alles, was er nie gesagt und nicht getan hat. Dann kann Harold nicht mehr stehenbleiben. Er schüttelt ab, was ihn gefangen gehalten hat, er verliert sich dabei selbst. Die Wanderung, die ihn zu vielen hilfsbereiten Menschen und in immer neue Situationen führt, verlangt ihm alles ab: „Harold saß lange auf einer Bank vor der Kathedrale und überlegte, wohin er gehen sollte. Ihm war, als hätte er seine Jacke abgelegt, sein Hemd und dann mehrere Schichten Haut und Muskeln.“
Ich gehe mit Harold durch ganz England – und ich folge ihm in seine Vergangenheit. Von Anfang an rührt mich das kauzige, verzweifelte Kerlchen zutiefst. Rachel Joyce ist keine meisterhafte Autorin, die aus poetischen Sprachbildern feine, glitzernde Netze spinnt. Aber sie hat das Talent bewiesen, eine rundherum glaubwürdige, lustige, aufwühlende und originelle Geschichte zu erzählen, die mit klaren Sätzen besticht und absolut stimmig ist. Sehr amüsiert habe ich mich darüber, wie die Medienwelt Harolds Reise vermarktet – diese Abschnitte geben dem Buch in meinen Augen viel Authentizität. Absolut sympathisch war mir auch das realistische Ende, das nicht (nur) mit viel Kitsch aufwartet, sondern mit der Einsicht, dass man dem Schmerz, den man in sich trägt, nicht entfliehen kann. Und dass der Tod unbesiegbar ist. Rachel Joyce sagt, sie habe ihr Herz in dieses Buch gelegt. Und das Schöne ist, dass man das mit jeder Zeile spürt.
Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge: schönes Cover im Stil einer alten Pergamentkarte.
… fürs Hirn: der unfassbare Kraftakt, der Harolds Reise ist – für seinen Körper wie für seine Seele.
… fürs Herz: die Hilfe, die Harold immer wieder bekommt. Und die Hoffnung, dass unter all den Schichten aus Bequemlichkeit, Lethargie und Schweigen irgendwo noch ein bisschen Liebe ist.
… fürs Gedächtnis: der ewig gültige Vorsatz, es nie so weit kommen zu lassen wie Harold – nie zu schweigen, wenn man reden sollte, nie sich umzudrehen, wenn man jemanden umarmen sollte.
Hmm, klingt gut – ich muss gestehen, dass mich das Buch auch reizt, mich aber einfach der Hype der darum entstand ein bisschen störte. Mein Geschmack ist eigentlich nicht unbedingt “massenkompatibel”, da schrecken mich Kassenschlager doch immer etwas ab. Ich werde nun aber beim nächsten Buchladenbesuch definitiv mal reinblättern. 🙂
Das kann ich gut verstehen, mir geht’s da genauso. Ich hätte mir das Buch niemals gekauft. Ich hab’s aber ausgeliehen (= in die Hand gedrückt) bekommen, und im Urlaub am Strand war dann auch die richtige Zeit dafür.
Das beruhigt mich, dass du diese Ablehnung von mir nachvollziehen kannst … ich hatte kurzzeitig Angst, mich mit meinem Kommentar wieder in die Nesseln zu setzen. 😉 Vielleicht sollte ich dann auch einfach darauf hoffen, dass mir das Buch geliehen wird und es in meinen Ferien lesen – es klingt nach einer netten Urlaubslektüre!
Genau das ist es auch! So was Leichtes, das trotzdem Tiefgang hat und anrührt, wenn du verstehst, was ich meine. Witzigerweise hab ich dann mehreren Leuten erzählt, ich würde gerade dieses “gehypte Buch” lesen, und die hatten alle noch nie von dem Titel gehört.
Rein vom Cover her, würde ich an diesem Buch achtlos vorbeigehen. Deine Rezension ist aber so schön, dass es mir in den Fingern juckt, diesen Roman ebenfalls zu lesen. Mit Vermarktungen eines Titels halte ich mich nie wirklich auf, somit ist mir das gar nicht aufgefallen, was für ein “Tamtam” um den Roman gemacht wurde.
Dein Schlussfazit fürs Gedächtnis kann ich nur bestätigen und ist sehr schön formuliert, liebe Mariki.
Danke! Diese Pilgerreise ist wirklich einen Ausflug wert 😉
Die liebe Bibliophilin hat das Buch übrigens auch rezensiert: http://www.bibliophilin.de/?p=8857 und war ebenfalls recht angetan.
Ich habe das Buch vor kurzem gelesen und kann deine Rezension voll nachvollziehen. Es ist wirkllich ein wunderbares Buch. Und ich finde, die Autorin hat an manchen Stellen etwas vom diesem poetischen Sprachstil, den du vermisst hast. Besonders bei den Landschaftsbeschreibungen ist es mir ein-zweimal aufgefallen. Man hat es auch schnell überlesen, ich mußte an der Stelle auch kurz innehalten und dem Nachspüren.
Zu den “gehypten Büchern” kann ich als Buchhändlerin folgendes Sagen. Es gibt da zwei Sorten. Ersten dejenigen, die von vornherein und vom Verleg marketingtechnisch gehypt werden. Und welche, die erst durch die Buchhändler zu Stars werden. Weil sie gelsen wurden und berührt haben. Seltsamerweise an verschiedenen Orten und bei unterschiedlichen Menschen zugleich. Das sind mir meist die “lieberen Bestseller”. Ich kann diesen Drang verstehen, Bücher, die zusehr empfohlen und vermarktet werden liegen zu lassen (Den Hape Kerkeling mit seinem Jakobsweg hab ich immer noch nicht gelesen), aber manchmal lohnt es sich doch da über den eigenen Schatten zu springen.
Danke für deine schönen Worte! Es stimmt schon, dass die Autorin gut schreibt – und allzu sehr hab ich die “Poesie” auch nicht vermisst, denn der Schreibstil der Autorin passt ausgezeichnet zu der Botschaft, die das Buch transportiert.
Da hast du recht mit deiner Unterteilung in zwei Kategorien von Bestsellern. Und Harold Fry wurde ja wirklich mit “Mundpropaganda” bekannt, weil die Leser begeistert waren – das ist natürlich schöner und “echter”, als wenn eine Verlagsmaschinerie dahintersteht. Und in diesem Fall bin ich ja auch froh, dass ich dazu genötigt wurde, über meinen Schatten zu springen 😉