Von der Grausamkeit der Geschichte
Eigentlich, erklärt die Ich-Erzählerin, würde sie die Geschichte gar nicht aufschreiben, doch ihr Sohn Thomas Kinsman drängt sie im Jahr 1898 dazu. Und so setzt sie sich hin, taucht die Feder in die Tinte und berichtet von der jungen Julie, die in den 1820er-Jahren als Haussklavin auf einer Zuckerrohrplantage in Jamaika schuften muss. Sie ist durch einen Akt der Willkür in der Villa gelandet und muss Caroline, der dicken Schwester des Hausherrn, persönlich zu Diensten sein. Die auf die Insel verschleppten Afrikaner werden nicht wie Menschen behandelt, sondern schlechter noch als Tiere, sie sind Leibeigene, die als geistig zurückgeblieben gelten und aufs Bitterste ausgebeutet werden. Und langsam regt sich Widerstand gegen die brutale Unterdrückung – die Gewalt bricht sich auf beiden Seiten Bahn. Doch bis zur Freiheit ist es für die Sklaven ein weiter, ein ewig langer Weg, der so voller Hürden, Qualen und Hindernisse ist, dass viele von ihn sein Ende nie erreichen werden. All die Grausamkeit, die diese Menschen erfahren, bringt Ich-Erzählerin Julie – denn es ist ihre eigene Geschichte, die sie für die Nachwelt festhält – schmerzhaft auf den Punkt: „All of my bones have a voice to speak to me. Even the smallest oft them chats the language of pain.“ Und als sie nach all den Jahren der Schmerzen und des Wartens endlich frei ist, wird das Leben für Julie nicht besser …
Andrea Levy stammt von jamaikanischen Sklaven ab, ihre Eltern kamen 1948 nach England – und wurden dort aller Wahrscheinlichkeit nach auch nicht gerade herzlich aufgenommen. Erst in späten Jahren hat sie zum Schreiben gefunden, und ihre Romane sind wichtige, mit Preisen gekrönte Zeugnisse der Verbindung zwischen Großbritannien und seinen ehemaligen Kolonialstaaten sowie der unmenschlichen Verhaltensweisen, die Kolonialherren hier wie dort an den Tag gelegt haben. Ihr Buch Small Island hat mich vor einigen Jahren sehr beeindruckt, und so folge ich Andrea Levy in The Long Song auf eine Zuckerrohrplantage in Jamaika, um dem „langen Lied eines Lebens“ zu lauschen. Es ist heiß hier auf der Insel und es stinkt, es riecht nach verbranntem Gras, nach Durst und nach Tod. Hier wird die tiefschwarze Julie als Tochter einer bärenstarken Sklavin geboren, und schon als Baby ist sie – an den Rücken ihrer Mutter gebunden – den ganzen Tag auf dem Feld. Als Julie Haussklavin in der Villa wird, gibt sie mir Einblick in das dekadente, verfressene, vermeintlich wertvollere Leben der Plantagenbesitzer, deren Reichtum auf der Ausbeutung anderer Menschen beruht. Das Leben der „Neger“ ist ihnen weniger wert als das einer Fliege. Deshalb lassen sie sie auch wie die Fliegen sterben.
Andrea Levy sagt im dem Roman angeschlossenen Interview, sie wolle in ihren Büchern nicht urteilen. Das braucht sie auch nicht, denn das Urteil ist seit Jahrhunderten in der Geschichte festgeschrieben. Die Kolonialherren gingen in ihrer Unterdrückung mit unfassbarer Grausamkeit vor. Das Konzept, sich andere Menschen als Sklaven zu halten, ihnen alles zu nehmen, sie nach Gutdünken auszupeitschen, ihre Kinder zu verkaufen und sie hungern zu lassen, ist mir derart und so vollkommen fremd, dass ich manchmal das Gefühl habe, Science Fiction zu lesen. Ich kann, ich mag nicht glauben, dass all dies tausendfach, millionenfach geschehen ist – dass die Erde so viel Leid gesehen und so viel Blut getrunken hat. Ich lebe in einem reichen Land, und ich bin frei. Dieses Glück durchströmt mich mit jedem Herzschlag – und mit jeder Seite von The Long Song wird mir das wieder bewusst. Andrea Levy hat nicht nur etwas zu sagen, etwas anzuklagen, sie kann auch richtig gut schreiben. In den Slang der Sklaven, in ihr Pidgin-English muss ich mich erst einfinden, aber das erkennbare Muster macht das nicht allzu schwer. Dies ist ein Buch, das atmet. Es flüstert und ächzt, es weint und es blutet. Dies ist ein tieftrauriges, wunderschönes, überaus kluges Buch, das von einer Zeit erzählt, die lange vorüber ist, deren Ausläufer sich aber in zu vielen Teilen der Welt heute noch finden. Und es kann nur die Hoffnung bleiben, dass es auch einmal eine Zeit geben wird, in der alle Menschen der Welt an einem Tisch sitzen werden und jeder genug auf seinem Teller hat.
Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge: ein sehr ansprechendes Cover.
… fürs Hirn: die ewige Frage, wie es sein kann, dass der Mensch seinen Brüdern Leid antut.
… fürs Herz: Julies Erzählton, der so herrlich ironisch, vermeintlich distanziert und in Wahrheit doch sehr emotional ist.
… fürs Gedächtnis: Andrea Levys Wichtigkeit als eine Autorin, die zum Leben erweckt, was nicht vergessen werden darf.
Liebe Mariki
Das Buch habe ich mir erst kürzlich bestellt, denn ich habe ein Interview mit Andrea Levy gesehen, das mich sehr beeindruckt hat. So wie du diesen Roman hier vorstellst, scheint ein grossartiges Buch auf mich zu warten, was ich aber bereits geahnt habe. Ich hoffe, es findet noch bei vielen Lesern Resonanz.
Eine tolle Rezension mit Tiefgang! Vielen Dank.
LG buechermaniac
Hallo büchermaniac! Hast du denn schon ein anderes Buch von Andrea Levy gelesen? Ich fand ja “Small Island” fast noch ein bisschen besser, wobei es aber komplett anders ist. Ich wünsch dir jedenfalls ergreifende Lesestunden mit dem langen Lied des Lebens!
Nein, ich kenne noch keines ihrer Bücher, aber die Autorin machte, wie gesagt, einen sehr positiven Eindruck auf mich, so dass ich mir schon vorstellen kann, dass ich dann auch zu “Small Island” greifen werde. Die leider traurige Epoche der Sklaverei hat mich schon immer sehr interessiert.
Ich bin gespannt auf deinen Eindruck! Vielleicht kannst du mir ja dann hier einen Link zu deiner Rezension posten, wenn du magst.
Magst du mal eine kurze Passage des Sklavenslangs hier posten? Ich hatte die Übersetzung rezensiert und mich gefragt, wie das im Original wohl aussieht (in der Übersetzung ist es ein bisschen holprig…).