“Man kann sich heute voneinander verabschieden und sieht sich möglicherweise nie wieder”
Der innere Aufruhg, dem der Architekt Ignacio Abel sich ausgeliefert sieht, kommt dem äußeren gleich, der seine Heimat Madrid erschüttert: Der spanische Bürgerkrieg zerrt im Jahr 1936 an der Stadt. Ignacio selbst ist rettungslos verloren in seiner leidenschaftlichen Liebe zur Amerikanerin Judith Biely. Ihretwegen hat er seine Frau Adela und seine Kinder Miguel und Lita vernachlässigt, hat ihre Leben an den Abgrund eines Stausees gedrängt und sie sogar zurückgelassen im gefährlichen Madrid, in dem zu jener Zeit ein Klopfen an der Tür den Tod bringen kann. “Aber jetzt war Madrid, wenn die Nacht hereinbrach, dunkler und gefährlicher und menschenleerer als ein mittelalterlicher Wald, und die Menschen waren wie Schakale, primitive Horden, nicht mit Keulen oder Steinäxten bewaffnet, sondern mit Gewehren.” Ignacio ist nach Amerika aufgebrochen – offiziell, um für das Burton College eine Bibliothek zu bauen, inoffiziell, um vor den Unruhen zu fliehen, und in Wahrheit, um nach seiner Geliebten zu suchen. Sie ist ihm abhanden gekommen kurz vor seiner Reise, die sie gemeinsam hatten antreten wollen, sie hat sich von ihm abgewendet wegen der Konsequenzen, die ihrer beider Affäre für Ignacios Familie hatte, und ist in den Straßenkrawallen Madris verschwunden oder – wie Ignacio hofft – nach Amerika heimgekehrt. Er erinnert sich an ihr erstes Kennenlernen, an seine sofort entflammende Begeisterung für die schöne junge Frau: “Ihre Gesichtszüge waren klar, wie mit einem feinen Stift gezeichnet: blasse Sommersprossen auf den Wangen und eine helle Haut, die das Gold von sonnenbeschienenem Weizen ihres Haars und das Graugrün der mandelförmigen Augen mit einem Hauch von Schläfrigkeit in den Wimpern noch verstärkte.” Er denkt an ihre gestohlenen Stunden zu zweit, die Poesie ihrer Gespräche und Briefe, die aphrodisierende Wirkung der ständigen Gefahr. Ignacio Abel ist unterwegs, um seine Geliebte zu finden – und hat auf dieser Reise viel Zeit, die aufrührenden Ereignisse Revue passieren zu lassen.
Dieses Buch ist ein Fluss. Es ist – man spürt es förmlich – aus dem bekannten spanischen Autor Antonio Muñoz Molina hinausgeflossen; aus Wortkaskaden besteht es, aus Satzbächen, Kommatawasserfällen, aus Metaphernströmen. Manchmal ist dieser Fluss reißend und voller Strudel, manchmal zieht er friedlich, ruhig und schön vorbei. Im 18. Roman dieses preisgekrönten Schriftstellers gibt es keine Einschränkungen für diesen Wortstrom, er schmückt ihn aus mit Adjektiven und Vergleichen, lässt ihn sich einen Weg bahnen durch die Grammatik, lässt den Leser atemlos auftauchen am Ende der Sätze: “Das Rot des Granatapfels wurde zu einer Farbe von glänzendem Leder; das staubige Gold der Quitte bekam mit wachsendem Halbdunkel zunehmen Glanz, reflektierte das Licht nicht mehr, sondern strahlte es aus; über den Apfel glitt das Licht hinweg wie über eine Kugel aus lackiertem Holz, erlangte jedoch eine gleichsam flüssige Dichte auf der Oberfläche der Trauben.” Luft holen. Mit einer überbordenden, elegant-melodischen Sprache lädt dieser Autor den Leser zum Schwelgen ein, kein Detail spart er aus, keine Regung ist ihm zu unwichtig. So erklären sich die 1002 Seiten dieses Buchs und der sogartige Leseeindruck, das Hineingesaugtwerden in den Wortwasserfall. Inhaltlich stellt der spanische Bürgerkrieg, mit dem Francos Diktatur begann, einen interessanten Rahmen dar; eine unsichere, bedrohliche Zeit, in der sich für Ignacio Abel ein ganz persönliches Drama abspielt: “Seit Monaten schon kann man sich bestimmter Dinge nicht mehr sicher sein, zum Beispiel ob jemand, an den man sich gut erinnert, den man vor ein paar Tagen oder einigen Stunden erst gesehen hat, noch lebt.” Das Außen und das Innen spiegeln einander in diesem elegischen Buch – während die Stadt um ihn herum zerbricht, findet Ignacio auch sein eigenes (Gefühls-)Leben in Trümmern vor. Mit der Blindheit der Liebe geschlagen, ignoriert er die Gefahr, in der er – und seine Familie – sich befindet, handelt nur nach seinem egoistischen Herzen. Ein Wermutstropfen ist das Ende des Romans, das mit bei all der langatmigen Vorbereitung ein wenig zu kurz geraten und daher enttäuschend erscheint. In jedem Fall muss man als Leser für Die Nacht der Erinnerungen etwas mitbringen, das uns heutzutage vermeintlich “fehlt”: Zeit. Zeit, um sich einzulassen auf die wahnsinnig schöne, anstrengende, verschnörkelte Sprache, um sich treiben zu lassen auf diesem Fluss, um an seinen Ufern zu ruhen. Ein Ausnahmewerk.
Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt:
… fürs Auge: ein schlichtes, kraftvolles Cover.
… fürs Hirn: viel Hintergrundwissen über die politische Lage Spaniens 1936 und den Bürgerkrieg.
… fürs Herz: Adelas böser, enttäuschter und doch liebevoller Brief, den Ignacio auf seiner Reise bei sich trägt.
… fürs Gedächtnis: mein Lieblingszitat: “Die zerbrechlichsten Dinge haben eine außergewöhnliche Fähigkeit zu überdauern, zumindest im Vergleich zu den Menschen, die sie herstellen und handhaben.”
Die Nacht der Erinnerungen von Antonio Muñoz Molina ist erschienen in der DVA (ISBN 978-3-421-04499-0, 29,99 Euro, 1008 Seiten).