“Denn wer ein Herz aus Diamant hat, dessen Tränen sind warm und mächtig wie das Sonnenlicht”
“So kletterten sie alle über die Reling, einer nach dem anderen: der Fragende, der Antwortende, der Leuchtturmwärter, das Rosenmädchen, die kleine Königin mit Frau Margarete im Arm und zum Schluss die blinde weiße Katze. Sie gingen ein Stück in die Richtung, in der sie das Festland glaubten, nur ein kleines Stück, dann blieben sie unschlüssig stehen – ein elendes Häufchen in der dunkelgrün glänzenden Unendlichkeit.” Dies ist das Märchen, das Abel erzählt, ein poetisches, kraftvolles Märchen, in das er die Realität übersetzt. In dieser Realität ist Abel ein 17-jähriger Schüler, der sich ganz allein um seine sechsjährige Schwester Micha – die kleine Königin – kümmert. Im Nacken sitzen ihm das Sozialamt, das Abitur und Michas Vater, dem Neigungen nachgesagt werden, die gefährlich sind für kleine Mädchen. Das Rosenmädchen, das ist Anna, die eines Tages durch einen Zufall Kontakt zu Abel – dem drogenverkaufenden “polnischen Kurzwarenhändler” – aufnimmt. Anna, die aus gutem Hause mit ruhig-liebevollen Eltern kommt, Anna, die noch nie verliebt war und die ihr Herz an Abel verliert. “Kein Stein schien auf dem anderen zu bleiben, seit sie Abel kannte.” Denn Abel, der fantasievolle Märchenerzähler, ist umgeben von einer dunklen Aura, von einem düsteren Geheimnis, das Anna nicht ergründen kann. Er ist erfüllt von einer tiefen Liebe zu Micha, aber seine Welt ist voller Gewalt – und als zwei Morde geschehen, weiß Anna nicht, wem sie trauen kann.
Auf Antonia Michaelis’ Roman Der Märchenerzähler hat mich die Bibliophilin mit einer begeisterten Rezension im Zuge ihrer Entdecker-Challende für Jugendbücher aufmerksam gemacht. Der Oetinger Verlag publiziert wunderbare Kinder- und Jugendbücher, und mit Der Märchenerzähler ist ein besonderer Coup gelungen. Behutsam geht die Autorin mit ihren drei Figuren um, hüllt sie ein in helles Licht – und setzt sie dann in eine grausame, bitterkalte Wirklichkeit, an der sie zersplittern. Mit einem Märchen, mit Worten stemmen sich diese Kinder – Abel, Anna und Micha – gegen den eisigen Wind, der ihnen entgegenpfeift. Als Leser hofft man inständig, alles möge gut enden, und hat zugleich die finstere Ahnung, dass das nicht möglich sein wird. Der Märchenerzähler ist kein nettes, beschauliches Jugendbuch, sondern ein fesselndes, authentisches und sehr düsteres Drama mit starker Sogwirkung. Aufmerksamkeit verlangt Abels metaphorisches Märchen mit Guten und Bösen, mit rettenden Inseln und alles verschlingenden Wellen, mit dem ersehnten Festland, das in der Realität Abels 18. Geburtstag entspricht, der ihm das Sorgerecht für Micha sichern soll. Die brave, naive Anna wird hineingezogen in Abels Außenseiterleben, in seine Abgründe, und verhält sich auch für einen extrem verliebten Teenager arg leichtsinnig, gibt sich auf. Aber Antonia Michaelis hat sehr gut erfasst, wie das Leben schon für die 17-Jährigen ist: nicht im Entferntesten so, wie man es sich vorgestellt hat. Anna kämpft um Abel, kämpft um des Rätsels Lösung, sie wird verfolgt, verletzt, im Märchen hat sie als Rosenmädchen eine helfende Funktion, in Wahrheit ist sie die eigentliche Heldin.
“Was hast du denn auf dem Herzen?”, fragte er. “Nichts”, sagte sie. Er sah sie an. Sie zuckte die schmalen Schultern. Sie war viel schmaler als er, ein Ast im Wind. “Die Welt”, sagte sie.
Ein hervorragend erdachtes, mutiges Buch, voll Vertrauen in die Fähigkeiten lesender Jugendlicher geschrieben. Well done!
Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt:
… fürs Auge: ein wunderschönes Cover, geniale Farbe!
… fürs Hirn: die Auflösung am Ende, die dann doch überrascht – geschickt führt die Autorin den Leser in die Irre.
… fürs Herz: die kleine Micha, die sich an das Märchen klammert und darin in ihrer Kindlichkeit einen Ausweg sieht.
… fürs Gedächtnis: die furchtbare Szene in der dunklen Bootshalle, die man nicht mehr vergessen kann.
Der Märchenerzähler ist erschienen im Oetinger Verlag (ISBN 978-3-7891-4289-5, 16,95 Euro).
Wunderschön!
Sag, hast du es geahnt, das Ende? Wer der Mörder war?