Ein unsentimentaler Blick auf das Leben in der DDR
Für W. liegen die Zeiten in der DDR lange zurück. Und das findet er auch gut so. Umso überraschter ist er, als ihm eine merkwürdige Einladung ins Haus flattert: Er soll an einem Symposium teilnehmen und über seine Erfahrungen als unbekannter unterdrückter Untergrunddichter sprechen. W. hält sich selbst gar nicht für einen Dichter, und dass er unterdrückt worden sein soll, ist ihm neu. Er verlangt Akteneinsicht – denn: “Wozu braucht man ein Gedächtnis, wenn man eine Akte hat?” – und vor ihm entfaltet sich sein eigenes Leben aus der Sicht der Stasi: Jahrelang wurde W. beschattet, für republikfeindlich erachtet und als gefährlich eingestuft. Und alles nur wegen einiger unfassbar schlechter Teenager-Liebesgedichte an Brieffreundin Liane in München. W. ist schockiert und muss erkennen, dass er offenbar ein ganz anderes Leben geführt hat als bisher gedacht – ein wesentlich interessanteres nämlich.
Ich schlage vor, dass wir uns küssen ist ein ebenso amüsanter wie intelligenter Roman über die DDR und ihre paranoiden Auswüchse. Mit so grottigen Reimen wie “Baby, wenn du sterbst, Baby, dann ist Herbst” ergattert W. als Jugendlicher einen Platz in der Verdächtigenliste von Oberleutnant Schnatz. Über Jahre liest er W.s poetische Ergüsse und kommentiert sie akribisch. Schreibt W. über den Frieden, meint Schnatz “fatalistische Anschauungen” zu erkennen, geht es um die Jahreszeiten, ist darin für die Stasi eine “negative Grundhaltung zu Teilbereichen der sozialistischen Gesellschaft” verborgen. Dabei liegt in W.s Gedichten nichts anderes als pubertäre Verliebtheit und Sehnsucht nach Liane: “An muß ich dich flehen, nicht von mir zu gehen” heißt es da oder: “Und nicht nur küssen, meine Liebe, ich denke auch an andre Triebe”. Das ist in erster Linie peinlich. Und sehr unterhaltsam.
Als Österreicherin jüngeren Jahrgangs sind meine Überschneidungspunkte mit der DDR gleich null. Umso kurioser und faszinierender ist für mich das Leben, das die Menschen einst unter diesem Regime geführt haben. Während Leser mit persönlichem Bezug sich von diesem Roman vielleicht brüskiert fühlen, genieße ich diesen unpathetischen und sehr zynischen Einblick in eine fremde Welt. Frei von Kitsch oder Ostalgie und abseits von grausamen Schicksalen, die sich im Osten Deutschlands ohne Zweifel abgespielt haben, beschreibt Rayk Wieland die DDR als Farce, als Institution, die sich selbst ad absurdum führte, die sich verrannte in Bürokratie und Kontrollwahn. Schon allein die Idee, einen unbekannten unterdrückten Dichter zu schaffen, der fassungslos ist, als er von seiner wahren Bedeutung für die Republik erfährt, finde ich genial. Die abgedruckten Gedichte verleiten zum Fremdschämen – und zeigen auf sarkastische Art, was man in jedes Wort hineininterpretieren kann, wenn man nur will. Rayk Wieland gießt einen Eimer Spott über die DDR – und wirft damit ein erleichternd heiteres Licht auf die Zeit der Mauer. Ganz nach dem Motto: Komik ist Tragik in Spiegelschrift. Wunderbar!
Ich schlage vor, dass wir uns küssen ist erschienen im Verlag Antje Kunstmann (ISBN 978-88897-553-0, 17,90 Euro).