Wie kann eine Frau ihr Kind einfach verlassen?
Auszeichnungen wie der Deutsche Buchpreis sind für mich nicht in erster Linie ein Kaufen-Kriterium. Wenn mir ein solchermaßen ausgezeichnetes Buch in die Finger kommt (oder es, wie in diesem Fall, auf meinem Geburtstagsgabentisch liegt), lese ich es noch kritischer, mit der Frage im Hinterkopf: Hat es den Preis verdient? Für Julia Franck lautet die Antwort: JA. Eindeutig sogar.
Die Sprache besticht mich und zieht mich – ein Wunder! – in ihren Bann: Ich genieße die originellen Metaphern, endlich kann ich mich ausruhen in diesem Stück Literatur und muss mich nicht, wie sonst so oft, an den vielen ausgelutschten Sprachbildern stoßen – im Gegenteil, Julia Franck bietet mir einen Erzählstil, wie ich ihn mag: klar, ein bisschen verschroben, leise schillernd. Ich fühle mich wie ein Goldgräber, der sich durch unendlich viel Matsch gewühlt – und endlich ein kleines Nugget gefunden hat. Das erste Kapitel ist ein gut gemachter Teaser: Eine junge Frau setzt ihren 8-jährigen Sohn Peter auf einem Bahnhof aus, der Krieg ist gerade vorbei, er bleibt allein zurück. Ich folge der Autorin nun auf dem Lebensweg dieser Frau, die so verstörend introvertiert ist, die nicht aufbegehrt und dabei paradoxerweise stark wirkt. Sie wächst mit einer abwesend-verrückten Mutter und einer lesbischen Schwester auf, sie findet die Liebe und erleidet Verlust. Kein großer deutscher Roman ohne den Nationalsozialismus, natürlich, aber Julia Franck bleibt so sehr bei ihrer Protagonistin Helene, dass ich den Krieg als notwendige Rahmenhandlung akzeptieren kann.
Dass die Mittagsfrau einer slawischen Legende entstammt, dass sie den Menschen den Verstand raubt oder sie in den Tod treibt, erfahre ich aus einer Rezension bei Amazon – im Buch ist mir das nicht klar geworden, was ich ihm ein wenig übel nehme. Aber: Wieder was gelernt. Die Frage des Buchs ist also: Kann man nachvollziehend erklären, warum eine Mutter ihr Kind aussetzt? Mir bleibt ein letzter Rest von anerzogenem Widerstand, die Protagonistin zu verstehen, aber das Buch lässt mich dennoch zufrieden zurück. Ein schwieriger, ein einzigartiger Roman – und definitiv lesenswert. Volle Punktezahl!
waschbär schrieb am 11. Februar 2009 @ 16:42
ich bin keine Frau, folglich auch keine Mutter, das Buch kauf ich mir trotzdem. klingt gut, wie du es rezensierst
Und schon wieder bin ich anderer Meinung als Mariki (ist das nicht spannend?): Das Buch ist viel zu verkopft und gewollt. Was den ersten Teil auch noch ein bisschen öde macht. Erst später wird es ein netter, wenn auch nicht besonders herausragender, historischer Roman.
Bei der Sprache bleiben keine Wünsche offen. Und die Geschichte hat mir auch gut gefallen. Ihr verhalten während des dritten Reiches ist sicher beispielhaft für das der meisten Menschen zu dieser Zeit: sie verdrängt die Politik und die Folgen für ihre jüdischen Verwandten und Freunde komplett aus ihrem Leben und nur einmal wird sie beinhart damit konfrontiert, als sie im Wald einen jüdischen Flüchtling sieht der offensichtlich aus einem der Transporte geflohen ist.