Bücherwurmloch

„Ich bin eindeutig kein Badehosen-Typ, aber zum ersten Mal Schwimmshorts zu tragen, Brust raus, Narben sichtbar, war unbeschreiblich.“

Elliot Page ist ein bekannter Schauspieler, der im kanadischen Halifax in Nova Scotia geboren wurde. Bei dieser Geburt wurde ihm das weibliche Geschlecht zugeordnet, und schon früh hat Elliot damit begonnen, sich anzupassen – es kam ihm deshalb ganz einfach vor, verschiedene Rollen für Filme und Serien anzunehmen, weil er auch im täglichen Leben nichts anderes tat, als eine Rolle zu spielen. Seine Eltern trennten sich früh, mit der Stiefmutter kam Elliot nicht gut aus – und auch von seinem Vater hat er wenig Unterstützung erfahren. Seine Mutter hat vermutlich ihr Bestes gegeben, auch wenn es, seiner Erzählung zufolge, kein sehr gutes Bestes war. Der Druck, unter dem Elliot viele Jahre lang stand, war enorm und hat sich in vielerlei Hinsicht bemerkbar gemacht, vor allem in heftiger Dysphorie und Essstörungen. Elliot konnte der Welt, die ihn für seine Filme bejubelt hat, nicht sagen, dass er queer ist, dass er Frauen datet. Die Zwänge, die ihm auferlegt wurden, die Möglichkeiten, die ihm genommen wurden, haben sein Leben bestimmt.

Aber Elliot Page lebt heute als der, der er immer schon gewesen ist. Er hat viele Menschen in seinem Leben verloren und andere dazugewonnen. Und er hat dieses Buch geschrieben, hat seine Geschichte erzählt – was dank seiner Berühmtheit für viel Sichtbarkeit sorgt. Es ist traurig, dass es diese Sichtbarkeit dringend braucht, weil wir queeren und trans Menschen sämtliche Rechte permanent absprechen. Es ist gleichzeitig schön, mitzuerleben, wie Eliott zu sich findet – und anfängt, frei zu sprechen. Für sich. Für alle anderen, denen es geht wie ihm. In interessanten, nicht chronologischen Anekdoten berichtet er von ersten Küssen und Kostümierungen, von öffentlichen Beschimpfungen und zerbrochenen Beziehungen. Mit jeder Seite hat es mir mehr wehgetan, dass die Welt so ist, wie sie ist. Dass es einen irren Leidensdruck und viel Mut braucht, um sich gegen den Hass zu stemmen. Danke, Elliot, dass du es getan hast.

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„Ein großes, großes Schluchzen drang durch meinen Körper“

Die Ich-Erzählerin wurde im Alter von sechs Jahren adoptiert, damit sie Pianistin werden konnte: Als Wunderkind galt sie, als hochtalentiert am Klavier. Der Mann, bei dem sie aufgewachsen ist, war also mehr ein Lehrer als ein Vater, und ihre wahren Eltern kennt sie nicht. Jetzt ist sie erwachsen, weltberühmt – und hat gerade während eines Konzerts einfach die Bühne verlassen. Sie konnte nicht mehr spielen, oder vielleicht wollte sie nicht. Stattdessen gondelt sie ein wenig durch die Welt, Griechenland und London, sie ist haltlos und auf der Suche, unterrichtet Söhne und Töchter reicher Eltern. Statt Antworten findet sie einen Hut, den ihr eine Frau hinterlassen hat, die ihr ähnlich zu sein scheint, vielleicht eine Doppelgängerin? Warum begegnet sie ihr immer wieder, an vollkommen unterschiedlichen Orten? Was, wenn ihr Mentor Arthur nun stirbt? Und wie wird ihre Zukunft aussehen?

„Augustblau“ von Deborah Levy, übersetzt von Marion Hertle, ist wie ein Arthouse-Film als Buch: verwirrend, mit Sonnenflecken, zarter Klaviermusik und seltsamen Unklarheiten. Dabei aber angenehm fließend, unterhaltsam, bei aller Fremdheit irgendwie schön. Auf dem Cover ist auch noch ein Pferd, das hat mit dem Inhalt gar nichts zu tun, und gerade deshalb passt es so gut zu diesem Buch. Die Sache mit der vermeintlichen Doppelgängerin ist nicht unbedingt unheimlich, aber doch recht schräg, und der Weg, den die Pianistin zu gehen versucht, verschlingt sich in sich selbst, er hat kein Ende und kein Ziel. Der Roman ist nachdenklich und sanft, als würde man einen selbstvergessenen Spaziergang machen. Ich hab ihn sehr gern gelesen. 

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„Die Geschichte vom kalten Herz hatten sie als Film gesehen“

Anfang der Fünfzigerjahre in Süddeutschland: Liz arbeitet schon als Jugendliche in der Batteriefabrik und hilft abends sowie am Wochenende in der Gastwirtschaft der Eltern. Die sind Geflüchtete und haben es endlich in ein eigenes Haus geschafft, in dem sie unten die Gäste bewirten. Für den Vater bedeutet das, dass er notgedrungen zum Trinker wird, für Liz bedeutet es, dass sie dort in der Wirtsstube ihren zukünftigen Mann trifft. Sie heiratet und bekommt Kinder, lebt ganz gut und irgendwie doch schlecht, weil die Erfüllung nicht zu finden ist in einem Frauenleben, das ganz den Männern untergeordnet gestaltet werden muss. Das weiß auch Liz‘ Mutter Nevenka, die zudem nie über ihre Herkunft und ihre Geschichte gesprochen hat.

Sabine Kucher schreibt vom kalten Wasser der Thaya und vom brennenden Schnaps, von postnataler Depression, bei der es heißt, dass es „schon wieder gehen wird“, von unerfüllten Träumen und lähmender Langeweile. „Die lichten Sommer“ hat einen wunderbaren Titel und ist ein ruhiges, schlichtes Buch, das sich nicht lange mit komplizierten Sätzen oder weit hergeholten Metaphern aufhält: Da erzählt eine so, wie es eben ist. Vor der Kulisse der Nachkriegszeit entwickelt sich ein Familienpanorama, in dem eigentlich niemand so richtig glücklich ist – aber so richtig unglücklich halt auch nicht. Es gibt kein großes Drama, mehr eine satte Unzufriedenheit, die wohl auch Teil der deutschen Geschichte ist. Schön ist, dass die zwei Frauenfiguren im Mittelpunkt stehen dürfen, auch wenn sie einander nicht nah sind. Ein angenehm zu lesender und bei aller Härte freundlich-weicher Roman.

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„Wenn zwei Frauen denselben Mann mögen, ist es nicht ziemlich wahrscheinlich, dass sie einander ebenfalls sympathisch sind?“

Ihr könnt das nicht hören, aber ich seufze gerade laut. Weil ich dieses Buch in der Hand halte. Das Seufzen besteht zur Hälfte aus Zufriedenheit und zur anderen Hälfte aus Erleichterung. Ich plädiere nämlich ständig und überall dafür, dass alte misogyne Narrative aufgebrochen werden. Und Eva Lohmann hat mit diesem Roman genau das getan. Es geht darin um einen Mann, der seine Frau mit einer anderen betrügt. So weit, so unspektakulär. Aber eigentlich geht es in Wahrheit um diese beiden Frauen: Sie sind es, die erzählen. Ihre Stimmen sind es, die wir hören. Der Mann kommt nicht zu Wort, der Mann ist, seien wir ehrlich, nicht so wichtig. Er ist ein Dreh- und Angelpunkt, aber es dreht sich eben nicht alles um ihn. Vielmehr ist er der Auslöser für Begegnungen, die so ablaufen könnten, wie sie es in anderen Büchern und Filmen zigtausendmal getan haben. In „Das leise Platzen unserer Träume“ führen sie aber von ihm ausgehend ganz woanders hin. Das ist unglaublich schön. Und sehr befreiend.

Dieses gehört zu den besten Büchern, die ich 2023 gelesen habe. Weil Eva Lohmann mit feinsinnigem Witz und raffinierten Kniffen Wege abseits vom Mainstream geht. Weil sie eine neue Wirklichkeit erzählt, und durch das Erzählen wird diese Wirklichkeit wahr. Es geht um die Lebensentwürfe von Frauen, um Kinderlosigkeit und Mutterschaft, es geht um Monogamie und Langeweile und Sex. Hervorragend beobachtet sind die Episoden, in denen Jule und Hellen abwechselnd zu Wort kommen, und ihre Gefühle bringt die Autorin gekonnt auf den Punkt. Die dürfen vielseitig sein und widersprüchlich und verwirrend, das macht sie so authentisch. In meinem Lesekreis zu „Diamantnächte“ haben wir überlegt, wie es wäre, wenn Frauen sich nicht länger an Männern orientieren würden, sondern aneinander. Bei ihrer Lesung zu „Jungfrau“ habe ich Monika Helfer gefragt, ob sie sich solche Geschichten vorstellen könnte. Sie hat entschieden Nein gesagt. Aber Eva Lohmann, die kann das. Und zwar richtig gut. Lest dieses Buch, unbedingt.

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„Alle seine CDs, DVDs und Fotobände kaufe ich dreifach – eine Ausgabe zum Aufbewahren, eine zum Angucken und eine zum Verleihen. Fernsehprogramme nehme ich auf und sehe sie mir immer wieder an. Seine gesammelten Aussagen und Handlungen helfen mir, ihn besser zu verstehen.“ 

Akari ist Fan von Masaki, seit sie als Kind einen Film gesehen hat, in dem er Peter Pan spielt. Inzwischen ist Masaki Mitglied einer berühmten J-Pop-Gruppe, Asaki gibt ihr gesamtes Geld aus, um Fanartikel mit seinem Gesicht darauf zu kaufen, und verbringt ihre ganze Freizeit damit, die sozialen Medien nach Neuigkeiten zu durchforsten und auf ihrem Blog über Masaki zu schreiben. Da sie Schülerin ist, muss sie nebenbei jobben, um sich ihr Fantum leisten zu können, und der Widerstand ihrer Eltern ist groß. Als bekannt wird, dass Masaki eine weibliche Person geschlagen haben soll, bricht eine virtuelle Welle los, von der Akari mitgerissen wird. Sie will keine Sekunde lang glauben, dass Masaki ein schlechter Mensch sein könnte, stattdessen denkt sie, dass sie etwas tun kann, um ihm zu helfen: noch mehr posten, noch mehr CDs kaufen. Auch wenn es sie in jeder Hinsicht in den Ruin treibt.

„Ich habe keine Ahnung, wie ich nach dem Konzert, wenn mir nichts mehr bleibt, weiterleben soll. Ich bin nicht ich, wenn ich nicht Masakis Fan bin. Ein Leben ohne ihn ist nur noch ein Warten auf den Tod.“ 

Rin Usami ist die jüngste Preisträgerin in der Geschichte des japanischen Yukio-Mishima-Preises, auch den Akutagawa-Preis hat sie für ihren Debütroman erhalten. 1999 geboren, ist die Autorin altersmäßig nicht weit von ihrer Protagonistin entfernt und erzählt eine lebhafte, glaubwürdige Geschichte von Bewunderung und Hingabe. Über alles, was Mädchen und Frauen gut finden, wird gern gelästert, ihr Fan-Sein wird lächerlich gemacht und abgewertet. Gleichzeitig sind sie wie ein großes Sparschwein, hinter den Popgruppen steckt eine riesige Marketingmaschinerie, es geht um Millionen. „Idol in Flammen“ ist ein sehr lesenswertes schmales Buch über Geldmacherei und emotionale Leere.

„Ich werde meine Sommerferien einzig und allein Masaki widmen, denke ich und habe das Gefühl, dass in dieser Einfachheit mein ganzes Glück liegt.“ 

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„40 Prozent der Jobs im Niedriglohnsektor werden in Deutschland von Migrant*innen der ersten, zweiten, dritten Generation übernommen“

Betiel Berhe ist studierte Ökonomin und Aktivistin, und sie zeigt in diesem Buch die Missstände unserer Gesellschaft auf. Das tut sie in einem gelungenen Mix aus Daten, Fakten und persönlichen Erlebnissen. Indem sie ihre eigene Lebensgeschichte erzählt und verdeutlicht, wie sie aus welchen Gründen als Kind, als Jugendliche, als Erwachsene behandelt wurde und wird, hinterfragt sie das deutsche Aufsteiger*innenmärchen. Hat sie es „geschafft“ und was bedeutet das überhaupt?

„Denn Menschen werden im Kapitalismus nicht einfach nur für ihr Mensch-Sein anerkannt, sondern sie müssen Waren kaufen und konsumieren, um gesellschaftlichen Status zu erlangen.“

„Nie mehr leise“ ist ein umsichtiges, durchdachtes Buch voll berechtigter Wut. Es ist ein Buch, das den Kapitalismus als das rassistische und klassistische System kritisiert, das er ist. Zum einen ist es unfair, wie wir von Schwarzen und migrantischen Menschen verlangen, dass sie auch noch den Erklärbär spielen, weshalb sie kaum selbst entscheiden können, ob sie Aktivist*innen sein wollen, sie werden dazu gemacht. Wir erzwingen, dass ihre bloße Existenz politisch ist. Zum anderen bin ich aber Schreibenden wie Betiel Berhe dankbar, weil Bücher wie dieses auf den Punkt bringen, was das Problem ist – und wie wir es lösen könnten.

„Diese Untersuchungen zur Psychologie von sozialen Klassen zeigen, dass Menschen aus der Armuts- und Arbeiter*innenklasse tendenziell empathischer sind als Menschen aus der Mittelschicht.“ 

Jetzt kommt es auf euch an, denn wir müssen Bücher wie dieses lesen. Wir müssen sie kaufen, verschenken, darauf aufmerksam machen, ihnen das Spotlight geben, das sie verdienen. Wie wir unser Zusammenleben gestalten, geht uns alle an – und wir können uns nicht vor unserer Verantwortung drücken. 

„Für weiße Menschen der Mittel- und Oberschicht ist die Idee der Intersektionalität eine intellektuelle Herausforderung. Nicht, weil sie weniger intelligent wären, sondern weil sie gelernt haben, dass nur ihre Lebenswirklichkeit gesellschaftlich relevant ist.“ 

Bücherwurmloch

Diese zwei Bücher gehören zu den wichtigsten, die ihr in eurem Leben lesen könnt – und das ist keine Übertreibung. Alles, was mit Sorgearbeit und Pflege zu tun hat, steht in unserer Gesellschaft am Rand, dabei sollte es im Zentrum angesiedelt sein. Sämtliche anderen Strukturen sollten um diese Kerntätigkeiten herum organisiert sein, nicht umgekehrt. Frédéric Valin hat im großartigen Verbrecher Verlag zwei Bücher zu Themen veröffentlicht, über die wir nicht sprechen, deren Relevanz wir jeden Tag wegignorieren, über die wir ein gesamtgesellschaftliches Schweigen ausbreiten, das uns allen schadet und in Zukunft sogar noch mehr schaden wird. In „Pflegeprotokolle“ lässt er jene zu Wort kommen, denen wir nie zuhören: Altenpfleger:innen und Erzieher:innen, Hospizmitarbeiter:innen und Menschen, die Geflüchteten helfen. Er hat vor, während und nach der Pandemie mit ihnen gesprochen und dabei Protokoll geführt. Sie geben Einblick in Berufe und Bereiche, die wir zu wenig kennen – und zeigen, wie diskriminierend und benachteiligend diese Gesellschaft ist. Das ist ebenso hart wie wichtig, und ich bin der Meinung, dass alle, alle darüber Bescheid wissen müssen. Menschen, die Zugang zu Bildung und Ressourcen haben, die weiß sind und cis und able-bodied, schauen auf alle anderen herab und glauben, dass diese Probleme sie selbst nicht betreffen. Das ist so egozentrisch und kurzsichtig, dass es schon lachhaft ist.

In „Ein Haus voller Wände“ berichtet Frédéric Valin dann selbst: Er ist nicht nur Autor, sondern auch Pflegekraft und Betreuer. Sieben Jahre lang arbeitete er in einer Einrichtung mit beeinträchtigten Menschen und erzählt von ihrem sowie seinem Alltag. Von den Mechanismen des Systems, vom Wegschauen, von Macht und Machtlosigkeit. Wir wollen nicht reden über den Tod, über Behinderung und Krankheit, aber wir müssen es tun. Die aktuelle Situation im Gesundheitswesen ist noch viel drastischer, als der Bevölkerung bewusst ist, und sie wird sich in den nächsten Jahren extrem zuspitzen. Lest diese Bücher. Beschäftigt euch damit. Stellt Forderungen, seid laut. So, wie es ist, kann es nicht bleiben.

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„Alles wird immer so viel schlimmer am späten Abend“

Agneta hat eine Tochter, die heißt Tilda. Agneta hat ein Haus, das ihr Vater gebaut hat und das Tilda nicht übernehmen will, weil sie in der Stadt studiert und dort ihr eigenes Leben führt. Agneta hat außerdem einen Freund, denn von Tildas Vater hat sie sich früh getrennt, weil er gewalttätig war, und sie hat ein Geheimnis. Sie ist sterbenskrank, und sie weiß nicht, wie sie ihrer Tochter das beibringen soll. Es ist schwierig geworden, mit ihr zu reden, oder vielleicht war es das schon immer. Agneta überwindet sich, fährt für ein Wochenende zu Tilda, aber auch vor Ort ist es ihr nicht möglich, zu ihrer Tochter zu sagen, dass sie nicht mehr lange zu leben hat.

Die schwedische Autorin Ella-Maria Nutti hat ein tieftrauriges Buch geschrieben – übersetzt von Wibke Kuhn – über Worte, die sich festsetzen im Bauch, in der Brust, im Hals, die es nicht hinausschaffen in die Welt. Weil sie so endgültig sind. Die Idee fand ich gut, den Schreibstil auch, nur bin ich irgendwann müde geworden davon, dass der Roman tatsächlich 200 Seiten lang exakt das behandelt: dass Agneta nicht sagen kann, was sie sagen muss. Recht viel mehr gibt es da nicht, zwar kommt auch Tildas Perspektive immer mal wieder vor, sie heißt dann namenlos „die Tochter“, aber was sie so erlebt, trägt nicht maßgeblich zur Handlung bei oder dazu, dass es überhaupt viel Handlung gibt. Ella-Maria Nutti widmet sich sehr ausgiebig dieser speziellen Sprachlosigkeit, dieser Mutter-Tochter-Beziehung, und auch wenn das vollkommen legitim und schön und wichtig ist, ist es auch am Ende minimal langweilig, um ehrlich zu sein. Es kommt so, wie es kommen muss, das ist sehr erwartbar. Aber vielleicht ist das auch in Ordnung, vielleicht passiert eben, wenn das Leben vorbei ist, nicht mehr viel.

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„Auf sinkenden Schiffen war schon immer gebetet worden“

Die Lehrerin Eva Lohaus macht sich mit ihren Aussagen, dass die Menschen aufhören müssen, Kinder zu bekommen, weil der Planet auf eine Katastrophe zuschlittert, viele Feinde. Befeuert wird der Hass, der ihr entgegenschlägt, auch von einem Interview, das die Journalistin Sina mit ihr führt. Sina versucht selbst seit einiger Zeit, schwanger zu werden – ist sich aber nicht sicher, ob sie das tut, weil sie selbst ein Kind will, oder eher, weil der Mann, den sie liebt, unbedingt Vater werden möchte. Sinas Schwester Mona dagegen hat bereits Kinder – und weiß nicht genau, wie sie ihre Rolle als Mutter und Ehefrau weiter gestalten soll. Eva wiederum zieht wegen der massiven Anfeindungen hinaus aufs Land, wo hoffentlich niemand sie findet, aber da lebt jemand, der auf sie gewartet zu haben scheint.

Verena Keßler hat ein ungemein schlaues Buch über Mutterschaft, die Klimakatastrophe und das Frausein geschrieben. Vier Frauen kommen zu Wort, ihre Geschichten sind miteinander verbunden, und das ist sehr klug gemacht – während des Lesens habe ich begeistert genickt, was den Plot und die Schnittstellen angeht. Es gelingt der deutschen Autorin, deren Debüt für zahlreiche Preise nominiert war, mit ihrem zweiten Roman, auf ihre Themen aus unterschiedlichen Winkeln zu schauen, die einander ergänzen. Ich liebe es, dass nun Räume eröffnet werden für Bücher wie dieses, das zum Nachdenken anregt und deutlich macht, dass es für Frauen nicht den einen richtigen Lebensentwurf gibt. Dass man die Biografien von kinderlosen Frauen und Müttern auch nicht gegeneinander aufrechnen kann, dass keine Summe am Ende dabei rauskommt, dass alles Vor- und Nachteile hat – und jeder Mensch mit Uterus selbst entscheiden darf. Ein hervorragendes Buch, ich hab es wirklich gern gelesen.

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„Nie im Leben würde ein Redskin weiße Schnürsenkel tragen“

Die Geschichte geht so: Heute ist Bey brav. Sie lebt in den Niederlanden, hat einen Mann und einen kleinen Sohn. Aber früher war Bey Bassistin in einer Avantgarde-Band, und sie war verliebt in Iggy. Sie haben wilde Sachen gemacht, ständig auf der Suche nach dem nächsten Exzess, doch dann ist Iggy ins Koma gefallen, und Bey hat das Land verlassen. Dreizehn Jahre später schneit ein Kuvert ins Haus, das für Bey der Anlass ist, sofort nach Deutschland zu fahren, ihren Sohn bei der Nachbarsfamilie zu lassen und sich den Geistern der Vergangenheit zu stellen: Iggy ist tot. Doch bevor er gestorben ist, ist er aus dem Koma aufgewacht. Und es sieht so aus, als wäre das alles nicht mit rechten Dingen zugegangen …

„Punked“ hat mich völlig überrascht: Trotz des kurzen Zitats hinten auf dem Umschlag habe ich nicht erwartet, dass das so ein hartes, thrillermäßiges Buch sein würde. Es geht um Punker, um Nazis, um Kinderschänder, es geht um Missbrauch und Gewalt, Folter und Mord. Wie ein rasanter Film saust der Roman durch die Ereignisse, spitzt sich schnell zu und deckt Dinge auf, die einem den Magen umdrehen. Man muss auf jeden Fall darauf eingestellt sein, dass es grausig wird und krass. Ein bisschen viele Zufälle auch, wie das bei Thrillern eben so ist, dazu ein eingängiger, lockerer Schreibstil, eine schräge Geschichte und klassische Übeltäter. Ich kann mir den Stoff gut als Netflix-Serie vorstellen, untermalt mit dem Punk-Sound der Neunziger. Dreckig, laut, heftig!