Für Gourmets: 5 Sterne

Sibylle Berg: Vielen Dank für das Leben

„Der Welt, der war das egal“
Ihr müsst wissen, ich glaube nicht an die Menschheit. Ihr müsst wissen, ich hasse die Menschen, ich bin zutiefst enttäuscht von ihnen, jeden Tag aufs Neue enttäuschen sie mich, ich bin voller Wut und Traurigkeit und Resignation. Und das ist kein Misanthropie-Statement als trendige Modeerscheinung, ganz im Gegenteil, so geht es mir, seit ich ungefähr vierzehn bin, und es ist nicht schön. Es ist schrecklich, es tut weh. Nur sehr selten begegne ich jemandem, der mich versteht. Meistens bekomme ich zu hören: „Jetzt tu doch nicht so“, oder: „Es gibt ja auch Gutes“, und: „Das meinst du doch nicht ernst.“ Ich wünschte, es wäre so, ich würde gern glauben, dass es Gutes gibt, ich würde das gern nicht ernst meinen, aber wie, ich frage euch, wie soll das gehen, wenn die Menschen gierig sind und grausam, wenn sie einander abschlachten und verhungern und ertrinken lassen, wenn sie einander ausbeuten und verraten und keine Gnade kennen, niemals. Es gibt keine Selbstlosigkeit auf dieser Welt, kein Teilen, keinen Zusammenhalt, es gibt keine Hoffnung.

Dann hat mir jemand etwas geschenkt mit einem Zitat aus diesem Buch darin, und ich kann kaum ausdrücken, wie sich das angefühlt hat. Es war, als hätte derjenige gesehen, wie ich bin und warum, hätte mir ins Innerste geschaut und mich erkannt. Aber ohne darüber zu urteilen, ohne mir zu sagen, wie ich doch eigentlich zu denken habe. Ich habe mich zutiefst erschrocken. Und ich wollte dieses Buch lesen, unbedingt. Jetzt, im Nachhinein, bereue ich das ein wenig, weil es meinen Menschheitshass so sehr befeuert hat. Weil es mich zum Weinen gebracht hat, aber nicht, wie ihr vielleicht denkt, zwei, drei stille Tränen der Rührung, nein. Ich habe geschluchzt und richtig geheult, ich habe gedacht: Ich ertrage das nicht, nie im Leben ertrage ich das.

Und doch bin ich froh, dass ich es gelesen habe, weil Sibylle Berg eine Meisterin ist, ein Genie, ich verneige mich tief vor ihr. Nur sie kann mit einem derart nüchternen, klaren Blick auf die Menschheit schauen und beschreiben, wie sie funktioniert, wie sie ausgrenzt und verlacht, wie sie tötet, manchmal schnell, mit gezielten Hieben, manchmal langsam, mit Liebesentzug und Ignoranz. Sie kann das mit Worten, die treffend sind und die einzig richtigen, sie kann das mit Sätzen und Bildern, die die Welt zeigen in all ihrer Düsternis und Lieblosigkeit.

Du blödes kleines Leben, mit deinem Geruch nach allem möglichen, nach Erde und Holunder, oder nach Wasser auf sonnenheißen Steinen, und das ist nun bald alles weg, und unschuldig ist doch keiner gewesen. Du kurzes kleines Leben, in dem es keinem gelingt herauszufinden, wie man dich ohne Schaden übersteht, du einzige Kränkung, du einziges Vorführen der eigenen Unwichtigkeit, da empfindet doch keiner Respekt für all die Anstrengungen und die Schläge und die Krankheiten und die Ängste.

Es geht um einen Menschen in diesem Buch, der Toto heißt, der nicht Mann ist und nicht Frau, der dick ist und vielleicht nicht schön, wenn man denn Schönheit überhaupt definieren kann, der singen kann oder womöglich auch nicht, und ist das wichtig? Ist es bedeutsam, wie Toto aussieht, was Toto kann, sollte Toto nicht einfach geliebt werden, so, wie Toto ist? Niemand, wirklich niemand liebt Toto, ein ganzes Leben lang nicht, nirgends, sie finden Toto abstoßend, lachhaft, es gibt kein Licht für Toto, keinen einzigen leuchtenden Augenblick.

Vielen Dank für das Leben ist grausam und authentisch und echt, es ist traurig, unfassbar traurig, es ist schwarz und scharf und klug und pointiert. Es ist, wie die Menschen sind: gnadenlos. Und es tut weh.

Vielen Dank für das Leben von Sibylle Berg ist erschienen bei dtv (ISBN 978-3-423-14341-7, 400 Seiten, als Taschenbuch 9,90 Euro).

 

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