Von der Liebe zu den Fischen und dem Hass auf die Familie
Caitlin verbringt viel Zeit im großen Aquarium, weil sie dort jeden Tag nach der Schule auf ihre alleinerziehende Mutter wartet. Die reißt sich den Arsch auf, weil sie keine gute Bildung hat, weil sie Geld braucht, sie arbeitet hart und viel. Caitlin ist auf sich gestellt, doch dann trifft sie im Aquarium einen älteren Mann, der sich für die vielen Fische interessiert – und für sie. Das Mädchen blüht unter der Aufmerksamkeit des Fremden auf und hat doch keine Ahnung, wer das ist. Als Caitlin es erfährt, gerät ihre kleine Welt völlig aus den Fugen – und ihre Mutter offenbart ihr wahres Gesicht, das alles andere ist als liebevoll.
David Vann ist einer, der mit aller Kraft zuschlägt. Er hat es nicht so mit Zurückhaltung. Wenn er was sagen will, dann haut er mitten in die Fresse, um den heißen Brei redet er nicht herum. Wo andere wegschauen würden, da greift er voll hinein. Das ist sehr mutig. Das ist auch sehr gewöhnungsbedürftig. Als ich seinen Roman Dreck gelesen habe, war ich vorübergehend regelrecht verstört. Er hat mich aus der Balance geworfen, mich erschreckt und abgestoßen. Deshalb wusste ich einerseits vor der Lektüre von Aquarium in etwa, was auf mich zukommen würde – und hatte zugleich Angst davor. Das Buch im Regal stehen zu sehen, war ein bisschen so, wie im Wartezimmer beim Zahnarzt zu sitzen. Eins aber vorweg: Aquarium ist nicht so schlimm wie Dreck. Und ich finde es viel besser.
David Vann geht brutal mit seinen Figuren um – aber das bedeutet nicht, dass er kein Herz für sie hätte. Er wirft sie hinein in ihr Leid, lässt sie dort jedoch nicht allein. Mit seiner zwölfjährigen Protagonistin hat er ein Mädchen erdacht, das für sein geringes Alter vieles erdulden und verstehen muss – und dabei doch so gern einfach nur ein behütetes Kind wäre. Diese tiefe Sehnsucht nach einem intakten Zuhause, die in uns allen schlummert, ist der eigentliche Kern des Romans. Was tut eine Mutter, wenn sie ein solches Zuhause nicht bieten kann? Wenn die eigenen Erwartungen an das Leben nicht einmal ansatzweise erfüllt wurden? Wie weit geht ein Kind, um sich diesen Wunsch vom familiären Zusammenhalt auch gegen jeden Widerstand zu erfüllen? Die Geschichte, die David Vann erzählt, ist hart und grenzwertig, schmerzhaft und unerträglich realistisch. Er setzt sich mit dem Konstrukt Familie auseinander, mit der Frage nach Schuld und Sühne, mit der Verantwortung, die wir für jene haben, die wir lieben. Auf diese Fragen findet er ungewöhnliche Antworten – die garantiert jeden Leser aufwühlen. Wenn ihr etwas lesen wollt, das euch herausreißt aus eurem Trott, das euch angreift und rüttelt und zum Nachdenken bringt, dann ist David Vann euer Mann (der Reim, Verzeihung, ist nicht beabsichtigt) und Aquarium euer Buch. Ich kann es absolut empfehlen, es nimmt den Schleier von unseren Augen und von unseren Herzen.
Aquarium von David Vann ist erschienen im Suhrkamp Verlag (ISBN 978-3-518-42536-7, 282 Seiten, 22,95 Euro). Besprechungen dazu findet ihr bei Literaturen, Masuko13, literaturleuchtet und Buchrevier.