Alt und Jung auf einer Reise in die Vergangenheit
Hannas Mutter ist im Alter von 100 Jahren gestorben. Hanna, die sie gepflegt hat, ist selbst schon 80 und nutzt die wiedergewonnene Freiheit für einen letzten Ausflug. Sie fährt von Wien nach Bayern, wo sie als junges Mädchen im Krieg auf einem Bauernhof untergebracht war. An ihrer Seite ist Michael, ein arbeitsloser Schauspieler, der seinem Freund Ernst nachtrauert und der Hanna flüchtig aus seiner Kindheit kennt. Damals schaukelte er auf dem Spielplatz, während Hanna sich mit seiner Mutter unterhielt. Die hat ihn später beim Vater zurückgelassen, und Michael hofft, während des Roadtrips mehr von Hanna über seine Mutter zu erfahren. Dummerweise ist er jedoch zu feig, sie zu fragen. Am Ziel angekommen, merken alle Beteiligten, dass das Vergangene längst vorbei ist und nichts sich mehr ändern lässt.
Kennt ihr den Film Frau Ella mit Matthias Schweighöfer? Den hatte ich beim Lesen permanent vor Augen. Das war einerseits ganz angenehm, weil das ein recht netter Film ist, führte aber andererseits zu dem Gefühl, es nicht unbedingt mit einer originellen Geschichte zu tun zu haben. Kurz vor dem Tod sucht ein alter Mensch ein letztes Mal Kontakt zu einer Jugendliebe, und ein junger Mensch fährt mit, um dabei etwas fürs Leben zu lernen und es umzusetzen, weil er ja selbst noch Zeit hat – das ist das Patentrezept vieler Bücher und Filme. Der junge österreichische Autor Jürgen Bauer macht es sich zunutze und stellt zwei Figuren zu einem Roadtrip-Duo zusammen: die resolute Hanna, die ihr Leben lang nur geschuftet hat, und den antriebslosen Michael, der nichts tut, als sich selbst zu bemitleiden. Dazu kommt noch die gehässige Elvira, eine 08/15-Schattenexistenz, die sich für was Besseres hält als alle anderen.
Das Fenster zur Welt ist gut geschrieben, und ich hab es gern gelesen. Allerdings schafft der Autor es in meinen Augen nicht, die Vorlag in ein Tor des Jahres zu verwandeln – der Ball rollt eher langsam und fast zufällig ins Netz. Etwas enttäuscht bin ich von diesem alles verklebenden Schweigen, das mich mit offenen Fragen zurücklässt. Warum musste Hanna ihren Mann verlassen, was hat er getan? Wieso kennen nicht einmal ihre Kinder den Grund? Was bedeutet es, dass ihr Sohn dort ist, wo er ist, weil sie „so ehrlich“ war, hat sie ihn verraten? Und warum darf ich all das nicht erfahren, soll das eine Demonstration dessen sein, wie wenig Hanna ihrer Familie anvertraut hat? Für mich wären diese und weitere Punkte essenziell für die Geschichte gewesen. Zudem muss ich ausnahmsweise etwas erwähnen, worüber ich ansonsten immer schweige, aber es ist wirklich verblüffend, wie viele sie/Sie-Fehler man in einem so schmalen Buch unterbringen bzw. als Lektor übersehen kann. Das Ende kommt ein wenig abrupt daher und bietet in Sachen Michael nichts Überraschendes. Aber nun ja: Ein Tor ist trotzdem ein Tor.
Das Fenster zur Welt von Jürgen Bauer ist erschienen im Septime Verlag (ISBN 978-3-902711-25-0, 176 Seiten, 17,90 Euro).
Noch mehr Futter:
– „Die Liste an literarischen Roadtrips als metaphorische Reisen in vergangene Innenleben ist lang, und doch büßt die doppelte Sinnsuche der Protagonisten in diesem Text nichts von seiner tiefgründigen Absicht und seinem Charme ein, denn die Spannung beruht zum Großteil auf den Ereignissen, die sich rundherum abspielen“, heißt es in der Rezension vom Literaturhaus Wien.
– „Jürgen Bauers Debütroman Das Fenster zur Welt – ein Buch von Liebe und Abschied – hat stellenweise eine gute Portion Humor, ist trotz allem ein sehr innerliches Buch“, schreibt das titel-kulturmagazin.
– „Wer eine locker-leichte Lektüre erwartet, ist hier falsch, denn die Abzweigungen im Leben, über die zwischendurch diskutiert wird, führen auf beiden Seiten in ein farbloses und vor sich hin plätscherndes Dahinvegetieren, das keine Höhepunkte kennt. Leider bleiben dadurch auch die Gefühle auf der Strecke, die einen Leser normalerweise an einen Roman fesseln“, stellt lazyliterature.de fest.
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