Das dicke Mädchen mit dem himmelblauen Koffer
Dass man es nicht verhindern kann, jemanden zu lieben, begreift Finn in jenem Sommer, den er mit Linda verbringt auf einer Insel in einem Zelt, in jenem Sommer, in dem er Boris trifft, einen Freund für tägliche Abenteuer, jenem Sommer, in dem Linda schwimmen lernt. Zuvor war Finn allein mit seiner Mutter, sein Vater – ein Kranführer – ist gestorben, aber da waren die Eltern schon geschieden, und die Witwenrente bekommt Vaters zweite Frau. Die Mutter arbeitet in einem Schuhladen, doch weil das Geld nicht reicht, müssen sie einen Untermieter aufnehmen und der rätselhafte Kristian zieht ein. Er ist rüpelhaft und charmant zugleich, was die Mutter ein wenig aus der Bahn wirft: “Es war wohl die Mischung, die sie umwarf, dass ein und derselbe Mensch Wörter wie Arschloch und sporadisch enthielt, als sei der Bursche eine Promenadenmischung, ein Mann ohne Heimat, und das ist, wie jeder weiß, ein Zigeuner, was wiederum falsch und unzuverlässig bedeutet, hatten wir uns also hier in unserer Idylle ein trojanisches Pferd aufstellen lassen?” So richtig aus der Bahn wirft die Mutter – und Finn – dann aber die Ankunft von Linda, Finns Halbschwester: “Dann kam Linda. Sie kam mit dem Bus. Allein.” Linda ist dick und schweigsam, hat struppiges Haar und einen kleinen himmelblauen Koffer. Von nun an ist Finn gefangen zwischen widersprüchlichen Gefühlen, zwischen der Eifersucht auf die Zuneigung, die die Mutter bald für Linda empfindet, und der Verantwortung, allzu plötzlich ein großer Bruder zu sein. Da die Mutter weiterhin arbeiten muss, passt Marlene auf die Kinder auf: “Marlene war wie geschaffen dazu, alles Schiefe und Seltsame hier auf der Welt in Ordnung zu bringen, mit ihren Worten, ihrer Schönheit und mit ihrem roten Lächeln.” Und als aufkommt, dass hinter Lindas Schwerfälligkeit etwas ganz anderes steckt als geistige Entwicklungsverzögerung, vertieft sich die Geschwisterbeziehung von Finn und Linda. Die beiden erleben einen Sommer, wie er unbeschwerter nicht sein könnte. Doch dann ist der Sommer vorbei, und Finn bekommt vom Leben die Lektion erteilt, dass nicht alles so sein kann, wie man es sich wünscht. Dass es wehtun würde, dieses Leben mit Linda, das hat er schon zu Beginn geahnt, als Linda zum ersten Mal nach Mutters Hand griff: “Und das konnte ich nicht länger mit ansehen, diesen Griff, von dem ich instinktiv begriff, dass es ein Griff fürs Leben war, der fast alles verändern würde, nicht nur in Lindas Dasein, sondern auch in Mutters und meinem, es war so ein Griff, der sich um dein Herz schließt und es wie in einem Schraubstock festhält, bis du krepierst, und der auch noch da ist, wenn du im Grab liegst und verfaulst.”
Es sind die großen Themen, die der norwegische Schriftsteller Roy Jacobsen aufgreift in diesem Roman, Drogensucht, Kindesmissbrauch, Geschwisterliebe, finanzielle Not und das Talent der Kinder, immer auf den Füßen zu landen. Er tut dies so feinfühlig, intelligent und elegant, dass sein Stil mir ein zufriedenes Aufseufzen entlockt. Ich fühle mich wohl in dieser Sprache wie in einem Daunenbett, das sich mir perfekt anpasst, wie in einem Whirlpool mit genau der richtigen Temperatur. Mit beachtlichem Talent hat Roy Jacobsen die Stimmungen eingefangen und zu Papier gebracht, die dieses Buch dominieren und zu etwas Besonderem machen: Fremdheit und Pflichtgefühl, Überforderung und langsames Zusammenwachsen – allen Widrigkeiten zum Trotz. Ganz ohne Kritik kommt Der Sommer, in dem Linda schwimmen lernte nicht davon, mir bleibt Kristians Figur letztlich zu schleierhaft, und die Distanz zwischen Linda und Finn ist mir teilweise etwas zu groß – wobei das aber vermutlich Geschwisterliebe ausmacht, dass man jemanden beschützt und zugleich ganz schrecklich von ihm genervt ist. Die Ereignisse zum Ende hin haben mich kurz entsetzt aufheulen lassen, der Schluss ist dann aber versöhnlich genug. Obwohl dieses Buch einen verträumten, freundlich-naiven Eindruck macht, gibt es in Wahrheit Einblick in eine eiserne, tausendfach auf diese Art erlebte Realität. Der kleine mutige Finn wächst mir ans Herz, ebenso wie die ganze zusammengewürfelte Familie in der winzigen Genossenschaftswohnung im norwegischen Nirgendwo. Roy Jacobsens Stil erinnert mich an jenen von Per Petterson, den ich sehr mag, dieses Nordische, Ruppige, Raue hat seinen ganz eigenen Zauber. Dieser Roman ist wie ein Sommer voll lauer Nächte und Geheimnisse, wie ein guter Freund, an den man gerne denkt. Meisterhaft!
Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge: ja! Das ist Sommer, so sähe er aus, gäbe es ihn in Bildform. Sehr schön, sehr passend.
… fürs Hirn: die unglaubliche Leichtigkeit, mit der sich Roy Jacobsen schwerer Themen annimmt, und wie er daraus ein zartes Sommerkleid häkelt, das überraschend gut wärmt.
… fürs Herz: dass Finn ganz tapfer, aber auch sehr eigensinnig versucht, mit allem allein fertig zu werden – wie ein typischer unkommunikativer Mann im Miniaturformat.
… fürs Gedächtnis: mein Lieblingszitat: “Linda fand das witzig, sie lachte sogar, mit einem Lachen, das klang wie ein erfüllter Wunsch, ich weiß nicht, ob es ihrer war oder meiner.”
Der Sommer, in dem Linda schwimmen lernte ist erschienen im Osburg Verlag (ISBN 978-3-940731-58-6, 19,95 Euro).
eine rezension, so schön wie dieses buch! danke!
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